Zugedröhnt unter Waffen

Kindersoldaten sind in Afrika keine Seltenheit - Ben Kwato Zahn durchlitt den liberianischen Bürgerkrieg

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 6 Min.
Genaue Zahlen gibt es nicht. Geschätzt wird, dass allen Konventionen zum Trotz 300 000 Kinder als Soldaten missbraucht werden - obwohl seit 1977 der Einsatz von Kindersoldaten völkerrechtlich verboten ist und seit 2002 ein UN-Protokoll untersagt, dass Kinder unter 18 Jahren zwangsweise für den Militärdienst rekrutiert werden - wie einst Ben Kwato Zahn in Liberia.

»Wo war Gott, als ich durch den Staub lief und fürchten musste, hinterrücks von Gewehrkugeln durchsiebt zu werden? Wo war er, als ich zusehen musste, wie Menschen gefoltert, Frauen vergewaltigt und Leichname ausgenommen wurden? Wenn Gott all dies gesehen hat, wie kann ich ihn da als Retter preisen? Ich hatte gelernt zu kämpfen und mich selbst zu retten. Ich war jetzt ein Krieger.«

Als Ben Kwato Zahn sich von seinem Gott abwandte und beschloss, sich fortan nur noch auf sich selbst und seine Kalaschnikow zu verlassen, war seine Seele erloschen. Er war noch ein Kind, und er war schon Soldat. Mit 17 Jahren hatte er beschlossen, notfalls zu töten, um nicht selbst getötet zu werden.

Ben war wie Tausende andere Jungen und Mädchen Kindersoldat im liberianischen Bürgerkrieg, in dem Charles Taylor und andere Kriegsherren mit Hilfe zugedröhnter Kinder um die Macht im westafrikanischen Vielvölkerstaat und um den Zugang zu den Bodenschätzen in einem der ärmsten Länder der Welt kämpften. Über 250 000 Menschen starben im Kampf zwischen Rebellen und Regierung, über eine Million Menschen wurden vertrieben, Zehntausende wurden verwundet, vergewaltigt und verstümmelt. Ben überlebte das Gemetzel. Doch was er erlebt hat, wird den mittlerweile 39-Jährigen sein Leben lang verfolgen. Nachts suchen die Dämonen der Vergangenheit ihn oft heim. Auch zehn Jahre nachdem der Krieg, der in Bens Albträumen weiter wütet, offiziell beendet ist, zuckt sein Blick immer noch nervös. Als seine Augen noch die Augen eines Kindes waren, haben sie gesehen, was keine Kinderseele verkraftet.

Ben sitzt mit Michael Jentzsch unter Palmen an einem weißen Sandstrand in der Nähe der liberianischen Hauptstadt Monrovia und beobachtet, wie die untergehende Sonne das Meer langsam rot färbt. Viele Menschen stellen sich so das Paradies vor. Für Ben und Michael war der Strand das Paradies. Vor über 25 Jahren. Michael kam als Sohn eines deutschen Missionars auf das Grundstück der ältesten christlichen Radiostation Afrikas, die direkt am Traumstrand liegt. Dort lernte der damals Achtjährige den drei Jahre älteren Ben kennen. Die beiden wurden beste Freunde. Sie gingen zusammen angeln, durchstreiften den Urwald, schlossen wie Winnetou und Old Shatterhand in Michaels Karl-May-Büchern Blutsbrüderschaft. Doch dann, 1990, verwandelte sich das Paradies in die Hölle.

Weil der Reis knapp wurde und skrupellose Politiker Hass zwischen den verschiedenen Ethnien schürten, war es in Liberia schon seit Ende der 70er Jahre immer wieder zu Massakern und Unruhen gekommen. Als Charles Taylor 1989 mit seiner Nationalen Patriotischen Front Liberias schließlich vom benachbarten Cte d'Ivoire aus einen bewaffneten Aufstand gegen Präsident Samuel Doe begann, brach der Krieg mit voller Gewalt aus.

Michaels Eltern sagten ihrem damals 14 Jahre alten Sohn, dass sie das Land für einige Wochen verlassen müssten. Sobald der Frieden zurückkehre, würden auch sie zurückkehren. Aus den Wochen wurden Jahre, denn der Bürgerkrieg tobte im Land mit kurzen Unterbrechungen bis 2003. Michael Jentzsch verbrachte diese Zeit wohlbehütet in Nigeria und Deutschland. Er machte Abitur, lernte seine zukünftige Frau kennen, studierte, wurde Lehrer und Vater zweier Töchter und kaufte ein Haus in der Nähe von Bremen. Er hätte glücklich sein können - doch er war es nicht. »Ich fühlte mich so schuldig, weil ich dich im Stich gelassen habe. Ich wusste noch nicht einmal, ob du überhaupt noch lebst«, sagt Michael zu Ben, als die beiden Männer abends am Strand sitzen, an dem sie ihre unbeschwerte Kindheit verbrachten.

Kurz nachdem Michael und seine Familie vor dem Krieg ins sichere Ausland geflohen waren, verließ auch Ben die Missionarsstation am Strand. Weil er der Volksgruppe der gegen die Regierung kämpfenden Gio angehört, hätten die Regierungssoldaten ihn wohl getötet, wenn er ihnen in die Hände gefallen wäre. Außerdem gab es im einstigen Paradies nichts mehr zu essen. Zu Fuß wollte sich Ben zu seiner Familie im Nordosten des Landes durchschlagen. An Straßensperren der Regierungstruppen und der Rebellen sah Ben, wie brutale Kämpfer wehrlose Mädchen und Frauen vergewaltigten und Kindersoldaten Flüchtlinge willkürlich folterten und erschossen. An einem der Checkpoints erfuhr er, dass sein Onkel Peter alias »Commander Hopeless« ein gefürchteter Rebellenanführer war. Der skrupellose Kommandeur nahm seinen Neffen in seinem Camp auf und drückt dem 16-Jährigen nach einer Woche mit den Worten »ein Mal mehr schießen ist immer besser als selber zu sterben« eine Kalaschnikow in die Hand. Ben feuerte die ersten Salven in den Dschungel. »Ich spürte zum ersten Mal die Macht, die einem solch ein Gewehr verleiht«, schrieb er fast 20 Jahre später im Buch »Blutsbrüder«, in dem er mit seinem Kindheitsfreund Michael seine Erfahrungen als Kindersoldat verarbeitete.

Doch gegen einen Raketenangriff der Regierungstruppen auf das Rebellenlager war auch Bens russisches Schnellfeuergewehr machtlos. Zwei seiner besten Freunde starben, Ben war wieder ohne den Schutz seines Onkels auf der Flucht. Um nicht zu verhungern, um nicht von den Regierungstruppen gefangen genommen zu werden und um der drohenden Zwangsrekrutierung, die mittlerweile allen »Männer« über neun Jahren drohte, zuvorzukommen, schloss Ben sich schließlich den Rebellen an. In einem Ausbildungslager machten die mit menschlichen Fingern, Knochen, Nasen und Penissen behängten Kämpfer in vier Wochen aus dem Jungen Ben den Soldaten Ben.

»Um mich im Camp unter den anderen Rebellen behaupten zu können, übte ich, brutal aufzutreten. Ich herrschte andere Kämpfer beim leisesten Konflikt sofort an, tat unberechenbar und trug mein Gewehr immer schussbereit mit mir herum. Ich nahm die Kalaschnikow sogar mit ins Bett und bastelte so an meinem Image eines sehr gefährlichen Rebellen«, schrieb Ben später in »Blutsbrüder«. Auch wenn er es sich zunächst nicht selbst eingestehen wollte, genoss Ben die Macht, die das Gewehr ihm verlieh. In seinem Buch schrieb er über die Zeit im Ausbildungslager: »Doch noch war es ein Spiel, noch hatten wir keinen richtigen Einsatzbefehl, keinen Befehl zum Töten.«

Doch kurz darauf gab es einen Tötungsbefehl gegen ihn selbst. Als er, berauscht von der Macht, die ihm sein Gewehr verlieh, drohte, einen Vorgesetzten zu erschießen, weil der sich mit Sexsklavinnen in Bens Hütte vergnügt hatte, wurde der aufmüpfige Kindersoldat zum Abschuss frei gegeben. Um seiner Hinrichtung zu entfliehen, rannte Ben erneut davon. Seine Kalaschnikow ließ er zurück. Nach einer lebensgefährlichen Flucht kam er schließlich bei seiner Familie an.

Die Rebellen hatten Ben gelehrt, sich mit Gewalt zu nehmen, was er wollte. Bei ihnen galt nur das Recht des Stärkeren. Seine Eltern lehrten ihn jetzt, die Rechte seiner Mitmenschen wieder zu respektieren. Bei ihnen galt nur das Gebot der christlichen Nächstenliebe. Für den mittlerweile völlig verrohten Jungen war es zunächst schwer, die neuen Werte und Normen wieder zu akzeptieren: »Ich sehnte mich nach den einfachen Regeln des Krieges, so barbarisch sie auch waren«, schrieb Ben in »Blutsbrüder«. Doch mit Hilfe seiner Familie fand der einst so fromme Ben schließlich seinen verloren gegangenen Glauben wieder.

23 Jahre nachdem er das erste Mal eine Kalaschnikow in die Hand gedrückt bekam, sitzt Ben mit seinem Blutsbruder am Strand. Mal wieder reden sie über den Krieg, der sie auseinandergerissen hat. »Nicht ich oder mein Gewehr haben mir unzählige Male das Leben gerettet. Es war Gott«, glaubt Ben. Und dann fügt er hinzu: »Ich habe ihn um Vergebung gebeten dafür, was ich während des Krieges gedacht, gesagt und getan habe.«

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