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Ein Pferdchen namens Margherita
Franziska Wilhelm: »Die Fischschwester«, Geschichten über das »Fremdeln«
Warum soll es in der Zoohandlung nicht ein Pferd geben, das sprechen kann? »Margherita«, sagt es leise - und die Ich-Erzählerin ist betört. Nur 35 Zentimeter war das schneegraue Tierchen groß, es wog fast nichts und stand gern auf dem Fenstersims. Die Leute unten staunten, wie es dort so anmutig lächelte und seine weißen Zähne zeigte. Bald offenbarten sich noch andere Talente: Margherita konnte Mundharmonika spielen und den Hula-Hoop-Reifen schwingen. Aber ach, wie so oft: Die wundersamen Zeiten gingen vorbei ...
»Geschichten über das Fremdeln« hat Franziska Wilhelm, 1981 in Erfurt geboren, ihr erstes Buch im Untertitel genannt. Wer »fremdelt« da? Die ganze Welt. Auch wenn niemand, wie die Schwester in der Titelgeschichte, einen Fischkörper bekommt, auch wenn da keine Katze, wie in »Soria« ihre Kommentare abgibt, auch wenn sich die Straße nicht plötzlich nach unten neigt (»Sterneck«) und nicht das Erschreckende geschieht, dass ein totgeborenes Kind sich hin und wieder zeigt (»Schwester am Fenster«).
Das sind für die Autorin wohl nur besonders einprägsame Bilder für jene Seltsamkeiten, die das Leben für einen empfindsamen Menschen immer parat hat. An der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein sowieso. Das beginnt schon damit, dass man nicht weiß, wie man sich dieses Erwachsensein überhaupt vorstellen soll. Fertige Muster gibt es zwar - Eltern und Großeltern leben sie vor -, doch kopieren kann man das nicht. Wie aber etwas ganz anders machen? Immer wieder handeln die kurzen Texte vom Suchen und Ausprobieren. Junge Frauen oder junge Männer wagen sich in ungewohnte Situationen und beweisen dabei eine viel größere Leichtigkeit, als es ihren Eltern vielleicht gelang. Beziehungen bleiben (leider?) flüchtig. Immer wieder wird davon erzählt, wie es zu unkomplizierten Begegnungen kommt, die schnell enden. Unterwegssein erscheint als Normalität. Aber woher, wohin? Ist es nicht im Grunde eine Flucht? So könnten es Außenstehende sehen. Die jungen Leute selber würden ihre Ängste nicht zugeben.
Die Endlichkeit des Lebens - darüber muss man sich doch mit dreißig nicht sorgen? Weit gefehlt, es ist ein viel einschneidender Gedanke, als Ältere glauben. Das Sterben einer Großmutter (»Baba Katka, Karla und das Schaf«), der Gedächtnisverlust: Was, wenn man sich selber eines Tages an nichts mehr erinnern könnte (»Agro-Öko-Consulting«), wenn man im fliederfarbenen Nachthemd durch die Nacht irren würde (»Im Schlauch Deluxe«)?
Ungemein genau sind die Beobachtungen - eigentlich Selbstergründungen - der Autorin. Subtil ausgefeilt ist ihre Sprache. Auf eine schwebend spielerische Weise hat sie Befürchtungen, Ängste gebannt. Der Tod eines Zwerghamsters allein kann ja schon schrecklich sein (»Flöckchen«). Ganz in der Tiefe spürt man auch, wie für jene Generation, der die Autorin angehört, eine ganze Welt ins Rutschen kam. Ein überflutetes Dorf steht für ein überflutetes Land. Und Plattenbausiedlungen für eine schwer erklärbare Nostalgie: »Ich kann nur Dinge schön finden, die auch ein bisschen hässlich sind.«
Franziska Wilhelm: Die Fischschwester. Geschichten über das Fremdeln. Edition Muschelkalk im Wartburg Verlag. 86 S., br., 11 €.
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