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Nähe, aber nicht zu nah
Erinnerungen an Willy Brandt
Mit seiner Ostpolitik des »Wandels durch Annäherung« bereitete er den Boden für die Vereinigung 1990. Er verkörperte das andere Deutschland. Sein antifaschistischer Widerstand brachte Täter wie Mitläufer des Hitlerregimes sowie Kalte Krieger auf die Palme. Franz Josef Strauß wetterte 1961: »Eines wird man Herrn Brandt fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.«
Ist Willy Brandt eine Erinnerungslast oder kann er visionärer Wegbegleiter sein? Dies fragten sich kürzlich in der Rheinland-Pfälzischen Landesvertretung in Berlin Autoren von Erinnerungen an den ersten sozialdemokratischen Kanzler und einstige Wegbegleiter des Jubilars, dessen 100. Geburtstag im Dezember des Jahres ansteht. »Willy Brandt hatte ein großes Herz für kleine Leute, er wollte sie nicht um sich haben«, benannte Wibke Bruhns einen scheinbaren Widerspruch. Er fühlte sich in einem Ortsverein mit zwölf Mitgliedern eher unwohl, während die Westfalenhalle in Dortmund sein Terrain war. Man könne ein Herz für die Betroffenen haben, ohne »ihnen dauernd das Händchen zu halten«, betonte die Journalistin.
Duz-Freund Egon Bahr erläuterte: »Man konnte Brandt nur näher kommen, wenn man ihm nicht zu nahe kommen wollte.« Brandt habe stets gezweifelt, »auch an sich«. Wenn er sich jedoch einen Standpunkt erarbeitet hatte, »blieb er eisern«. Im Gegensatz zu Helmut Schmidt sei Brandt von der Partei und vielen Bürgern geliebt worden, eine Tatsache, an der sein Nachfolger noch heute zu knabbern habe. Charisma könne man eben nicht kaufen, weiß Bahr. Und auch dies: Durch seinen frühen Rücktritt 1974 habe Brandt letztlich gewonnen.
Es komme selten vor, dass ein Politiker nach seinem Sturz eine Rolle ausfüllen könne, die ihn im Nachhinein über sein ursprüngliches Amt hinauswachsen lässt, ergänzte Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des »Tagesspiegel«. Brandt sei dies mit der Nord-Süd-Kommission und dem Vorsitz der Sozialistischen Internationale geglückt. Kein deutscher Politiker habe im Ausland soviel gewirkt und bewirkt. Bahr stimmte zu: »Er rückte im Denken nach links durch die Erfahrung, dass man durch Abrüstung den Hunger in der Welt beenden könnte.« Im Umgang mit der sich entwickelnden Friedens- und Umweltbewegung zeigte sich Brandt lernfähiger als Schmidt. Letzterer habe mit Sätzen wie »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen« junge Leute aus der SPD getrieben. »Es wären noch mehr gewesen, wenn nicht Brandt Vorsitzender gewesen wäre«, meinte Albrecht von Lucke. Sodann beklagte der Publizist, dass die SPD seit 15 Jahren keine »sozialdemokratischen Antworten mehr« gebe. Dies stünde im Gegensatz zur Forderung Brandts von 1983 nach einer »linken Mehrheit jenseits der Union«.
Für Bahr vor allem von bleibendem Wert ist die Mahnung Brandts: »Frieden ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Frieden.« Trotz Schwächen, Widersprüchen und Depressionen sei Brandt ein »Glücksfall für unser Land« gewesen. Er habe im Osten Anerkennung genossen wegen seiner antifaschistischen Vergangenheit und wurde im Westen respektiert wegen der Verteidigung der Westsektoren Berlins in seiner Zeit als Regierender Bürgermeister. Mit seiner anderen Art Politik zu machen, könne er auch heute noch als Vorbild gelten, sagte Bahr. Brandt habe Entscheidungen nie als alternativlos angesehen. Er wollte Politik mit den Bürgern diskutieren. »Wir haben heute nicht mehr solche Politiker«, bündelte Casdorff die einhellige Meinung der Podiumsteilnehmer und des Publikums.
»Die Willy Brandts wachsen nicht auf den Bäumen«, bemerkte einmal Erhard Eppler. Seine Feststellung wird vom wenig beeindruckenden Personal in der Politiklandschaft der Berliner Republik bekräftigt. Im Wahlkampfjahr wird sich zeigen, ob Brandt wenigstens in seiner eigenen Partei lebendig bleibt oder auch diese sein Vermächtnis dazu verdammt, im Museum zu verstauben.
Egon Bahr: »Das musst du erzählen.« Erinnerungen an Willy Brandt. Propyläen, Berlin. 240 S., geb., 19,99 €.
Wibke Bruhns: Nachrichtenzeit. Meine unfertigen Erinnerungen. Droemer, München. 424 S., geb., 22,99 €.
Gunter Hofmann: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft. C. H. Beck, München. 336 S., geb., 21,95 €.
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