Erdogan droht mit Einsatz der Armee

Gewerkschaftlicher Aufruf zu Generalstreik / Polizei in Istanbul kesselt Demonstranten ein

  • Jürgen Gottschlich, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.
Die türkische Regierung droht Demonstranten mit dem Einsatz der Armee und verschärft damit ihren Konfrontationskurs. Für den gestrigen Montag hatten die türkischen Gewerkschaften zu einem Generalstreik aufgerufen, den Innenminister Güler als illegal bezeichnete.

Wenn nichts mehr hilft, hilft die Armee. Diesen Slogan der Kemalisten macht sich jetzt auch der angebliche Kämpfer gegen den Einfluss der Armee in der Türkei, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, zu eigen. Am Montag ließ sein Stellvertreter Bülent Arinc in einer Pressekonferenz in Ankara die Katze aus dem Sack.

»Die Polizei ist da«, sagte Arinc. »Wenn das nicht reicht, kommt die Gendarmerie. Wenn das nicht reicht, kommen die Streitkräfte.« Die Gouverneure, die auch für die Sicherheit in den Provinzen zuständig sind, hätten das Recht, auch die Armee anzufordern, wenn andere Sicherheitskräfte mit »illegalen« Demonstrationen nicht mehr fertig werden.

»nd« fordert von Ankara Auskunft

Berlin (nd). Bei ihren Übergriffen auf Demonstranten am Wochenende in Istanbul ist die türkische Polizei auch gegen Medienvertreter vorgegangen, hat zahlreiche von ihnen verhaftet und, wie Videos zeigen, sogar misshandelt. Darunter befindet sich auch Gökhan Bicici, der mehrfach für »nd« aus der Türkei berichtet hat. »nd«-Chefredakteur Tom Strohschneider hat am Montag in einem Brief an den türkischen Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, seine Sorge über die Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zum Ausdruck gebracht. Die Redaktion erwarte von türkischer Seite Auskunft über die Situation Bicicis und der übrigen festgenommenen Medienvertreter, heißt es in dem Schreiben.

Doch noch ist es nicht so weit. Am Montag gehörte - nach den Straßenschlachten vom Wochenende - den Gewerkschaften die Szene. Zwei große Dachverbände und drei kleine Branchengewerkschaften riefen zu Streiks und Solidaritätskundgebungen auf, und Tausende folgten diesem Appell.

Es verlief friedlich in Izmir. Gewerkschafter zogen am berühmten Kordon, dem Prachtboulevard am Meer, entlang, ohne von der Polizei behelligt zu werden. Das sah in Ankara schon anders aus. Die Polizei stoppte den Zug einige Kilometer vor dem zentralen Kizelay-Platz im Zentrum der Hauptstadt.

In Istanbul hatten die Gewerkschaften ihren Streik erst am Mittag begonnen. Zuvor war in den Betrieben noch diskutiert worden. Danach sollte ab 14 Uhr von unterschiedlichen Plätzen aus ein Sternmarsch auf den Taksim-Platz stattfinden. Bereits im Vorfeld hatte Innenminister Muammer Güler aber gedroht, diese »Streiks sind illegal«. Es gebe »den Willen, die Menschen mit illegalen Aktionen wie Arbeitsniederlegungen und einem Streik auf die Straße zu holen. Unsere Sicherheitskräfte werden das verhindern.«

Der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, sagte, »der Taksim-Platz ist für die Gewerkschaften tabu«. Noch bevor die einzelnen Gruppen sich Richtung Platz in Marsch setzen konnten, waren sie von Polizeieinheiten eingekesselt worden.

Bis dahin hatte im Zentrum von Istanbul erstmals seit Tagen wieder so etwas wie Normalität geherrscht. Der Taksim-Platz war für normales Publikum wieder geöffnet, sogar die U-Bahn fuhr.

Aus dem mittlerweile weltbekannten Gezi-Park ist unterdessen ein Polizeipark geworden. Hunderte Polizisten hocken im Schatten der von der Gezi-Bewegung geretteten Bäume und sehen zu, wie Arbeiter der Stadtverwaltung Löcher graben, um im Auftrag von Erdogan neue Bäume zu pflanzen. Denn »wir sind die wahre Umweltbewegung«, hatte der seinen Anhängern zugerufen.

Aus Berlin kam am Montag halbherziger Protest. Die Geschehnisse in der Türkei entsprächen »nicht unseren Vorstellungen von Freiheit der Demonstration, Freiheit der Meinungsäußerung«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber RTL. »Ich bin jedenfalls erschrocken.« Während sie Fragen nach Konsequenzen für einen EU-Beitritt des Landes auswich, sprach CSU-Chef Horst Seehofer der Türkei erneut jegliche Beitrittstauglichkeit ab.

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