Brasilien und Türkei: Wieder große Proteste, wieder Tränengas

Zehntausende skandieren: »Die WM für wen?« / Erdogan beschuldigt Regierungskritiker: »Vom gleichen Zentrum aus gesteuert« / Polizei räumt erneut Taksim-Platz

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin (Agenturen/nd). Trotz einiger Versprechen von Präsidentin Dilma Rousseff, die als Angebot an die seit Tagen protestierenden Menschen betrachtet wurden, gehen die großen Sozialproteste in Brasilien unvermindert weiter. 70.000 Demonstranten gingen am Samstagabend alleine in der südöstlichen Stadt Bel Horizonte auf die Straße, durch Polizeieinsätze wurden mindestens 15 Menschen verletzt.

Proteste gab es auch in Santa Maria in Südbrasilien und São Paulo, wo sich jeweils mindestens 30 000 Menschen an Protesten beteiligten. Auch in Salvador da Bahia gingen Menschen auf die Straße.

In allen Städte waren Plakate mit der Aufschrift »Schluss mit Korruption« zu lesen. Doch die Proteste hatten auch diesmal zahlreiche andere Themen. Viele Demonstranten kritisierten die geplante Änderung eines Gesetzes, das Ermittlungsbefugnisse der Staatsanwaltschaft einschränkt und auf die Polizei überträgt. In Brasília demonstrierten etwa 3000 Frauen in einem auch aus anderen Ländern bekannten »Marsch der Schlampen« gegen Sexismus.

Drei von vier Brasilianern unterstützten nach einer Umfrage die Protestbewegung; als wichtigster Grund wurden die hohen Kosten für den öffentlichen Verkehr genannt. 77 Prozent gaben an, die teuren Fahrkarten für einen herabgewirtschafteten öffentlichen Verkehr seien das Hauptmotiv für ihren Ärger. Die politische Klasse gaben 47 Prozent als Grund an, 33 Prozent nannten die Korruption. Obwohl die hohen Ausgaben für die WM viele Brasilianer wütend machen, stehen 67 Prozent der Bevölkerung des fußballvernarrten Landes hinter der Ausrichtung.

Präsidentin Rousseff hatte am Freitagabend erstmals seit Beginn der Unruhen vor anderthalb Wochen Stellung bezogen. Sie rief ihre Landsleute zur Einheit aufgerufen. Zugleich versprach sie in der Fernsehansprache mehr Anstrengungen gegen die grassierende Korruption sowie einen »großen Pakt« zur Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen. Die Regierung werde aber nicht einfach zusehen, wenn öffentliches und privates Gut zerstört werde, warnte sie.

»Die WM für wen?«, skandierten am Tag danach dennoch zehntausende Menschen in Bel Horizonte. Sie brachten damit ihre Wut über die Milliardenausgaben für die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft in einem Jahr zum Ausdruck. Die Polizei feuerte Tränengas auf Demonstranten, die in den Sicherheitsbereich um das Stadion Mineirao eindringen wollten, wo ein Spiel des Confederatinos-Cup ausgetragen wurde. »Wir sind gegen die WM, weil sie die Probleme unseres Landes maskiert«, sagte der Musiker Leonardo Melo. Die Fernsehansprache Rousseffs tat er als »Rhetorik« ab, weil keine konkreten Zusagen gemacht worden seien.

Derweil hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bei den Protesten in Brasilien eine Art Verschwörung am Werk, die auch hinter der Bewegung in der Türkei stehe. »Diejenigen, die in der Türkei gescheitert sind, geben jetzt ihr Bestes in Brasilien«, wird Erdogan bei einer Rede vor Zehntausenden Anhängern in Samsun im Norden der Türkei zitiert. Die Proteste würden „vom gleichen Zentrum aus gesteuert“.

In der Nacht zum Sonntag hat die türkische Polizei den Instanbuler Taksim-Platz wieder mit Tränengas und Wasserwerfern von Demonstranten geräumt. Zuvor hatten sich am Samstag wieder Gegner Erdogans auf dem zentralen Platz versammelten. Die Polizei ging erneut mit Wasserwerfern gegen friedliche Demonstranten vor.

Die Menschen skandierten Parolen wie »Taksim ist überall« und »Das ist nur der Anfang«. Als die Polizei den Platz räumte, flogen vereinzelt Flaschen. Viele Demonstranten bewarfen Polizisten und Wasserwerfer mit Blumen. Über den Kurznachrichtendienst Twitter war dazu aufgerufen worden, rote Nelken mitzubringen, die das Symbol der Arbeiterbewegung sind.

Obwohl Augenzeugen am Samstagabend zunächst nicht beobachteten, dass die Polizei auf dem Taksim-Platz Tränengasgranaten verschoss, klagten Demonstranten nach dem Wasserwerfereinsatz über Reizungen der Atemwege und der Augen. Die Polizei wird verdächtigt, dem Wasser Chemikalien beizumischen. Bestätigt ist das nicht, über soziale Netzwerke verbreitete Fotos deuten aber darauf hin. Diese Bilder scheinen zu zeigen, wie Polizisten Flüssigkeit aus Kanistern mit Warnhinweisen in Tanks von Wasserwerfern füllen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -