Unerlaubtes Wunder

»The Deep« von Baltasar Kormákur

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Tief ist jedes Wasser, in dem man nicht mehr stehen kann. Wenn die Kräfte des Schwimmers erlahmen, ertrinkt er. So wie die Besatzung des isländischen Kutters, der in dieser Nacht gekentert ist. Nur einer schwimmt im eiskalten Wasser Stunde um Stunde, bis zum Morgen: Gulli, der Fischer.

Der Film des Isländers Baltasar Kormákur beruht auf einem authentischen Fall von 1984. Es gibt dazu auch ein Theaterstück, das vor einigen Jahren als Gastspiel an der Berliner Schaubühne zu sehen war. Ein Monolog über diese Nacht, als Theater jedoch wenig gelungen. Reicht die bloße Erinnerung eines Einzelnen, die auf der Bühne schon nicht funktionierte, nun fürs Kino? Nein, es reicht nicht und Kormákur weiß dies. So ist in seinem Film die Geschichte des Untergangs des Bootes und der Kampf gegen das Ertrinken nur ein erster Teil, gleichsam der Prolog zum Eigentlichen, was noch kommt.

Gulli ist ein durchschnittlicher Inselbewohner. Außer Fischfang gibt es hier nichts. Also fährt auch er in dieser Nacht hinaus, wie in hunderten Nächten zuvor. Ein Sturm flaut gerade ab, nichts deutet auf etwas Ungewöhnliches hin, eine Routinefahrt noch in Sichtweite der Küste. Und plötzlich, in Sekunden passiert es. Das Schleppnetz hat sich im Lavagestein des Grundes verfangen, das Boot hängt fest. Das Netz ist neu, darum werden die Seile nicht sofort gekappt und der Kapitän versucht es frei zu bekommen, indem einen weiten Kreis fährt. In diesem Moment lässt eine Windböe den Kutter kentern. Einige Besatzungsmitglieder ertrinken sofort, schaffen es nicht einmal mehr an Deck zu kommen. Andere treiben nun mit Gulli im eisigen Wasser. In wenigen Augenblicken ist die Normalität zerstört, der Ausnahmezustand beginnt.

Die Nacht ist lang und dunkel, vor dem Morgen ist keine Rettung zu erwarten. Selber zum Ufer schwimmen? Es dauert nicht lange und Gulli ist allein, die anderen sind erst vor Kälte erstarrt und dann still versunken. Aber er schwimmt weiter und erreicht am Morgen das Ufer. Doch dann muss er noch weiter schwimmen, weil die Klippen zu scharf sind, um an Land zu kommen. Nach sechs oder sieben Stunden im Eiswasser läuft er mit blutenden Füßen über die Insel bis zu einem Haus, wo er um Hilfe bittet.

Als man ihn ins Krankenhaus bringt, liegt seine Temperatur bei unter 35 Grad, Puls und Blutdruck sind nicht mehr messbar. Doch er lebt. Das ist die Geschichte, die ein wenig nach Heldenepos klingt - und so endete auch der Theatermonolog Gullis. Sein Überleben, ein Wunder?

Kormákur nimmt diesen ersten Teil der Geschichte durchaus ernst. Obwohl wir wissen, dass es ein Unglück geben wird und nur Gulli überlebt, nimmt er sich Zeit für die einzelnen Besatzungsmitglieder und ihre Familien. Es ist eine raue Szenerie: die Fischer und das Meer. Man spricht wenig miteinander, der Kampf mit Kälte und Wasser hat die hier Lebenden hart gemacht. Unter den tief hängenden Wolken treibt Gulli im Meer, Stunde um Stunde. Es wirkt wie ein Kammerspiel mit Tod, doch zugleich wie ein Naturepos. Auf eindrucksvolle Weise gelingt es Kormákur zwei einander widerstrebende Kraftzentren ins Bild zu bringen: die Enge der Todesangst und die Weite desjenigen, der sie überwindet.

Bis hierhin könnte man über »The Deep« sagen: es ist gut gemachtes Kino, allerdings auch ein offensichtliches Nachspielen der bekannten Szenerie. Einer überlebt ein schwerer Unglück - und nun? Die Ratlosigkeit des Überlebenden ist das eine, der Aufklärungswille derer, die seinen »Fall« unbedingt aufklären wollen, das andere. Dieser Wissensfuror wird zum Anstoß für den zweiten Teil von »The Deep«. Die moderne Wissenschaft kennt keine Wunder! Sie arbeitet sich an Gulli ab mit ähnlich grausamer Beharrlichkeit wie das Meer, doch zudem mit dem strengen Vorsatz, nichts annehmen zu können, das nicht durch Vernunftgründe gerechtfertigt wäre. Wieso konnte ausgerechnet der unsportliche Gulli überleben?

Es ist nicht Gullis Frage. Er sieht sich nun als Proband einer Versuchsreihe nach der anderen ausgesetzt. Dabei ist er vor allem traurig. Die anderen Besatzungsmitglieder sind tot, diese Gewissheit schmerzt. Kormákur sieht sehr genau hin. Da sind die Familien der toten Fischer unter denen er nun geht wie ein Fremder, so, als habe er sich durch sein Überleben schuldig gemacht. Sie sehen ihn auch so an, nicht gerade, sondern von der Seite. Die dörfliche Welt hoch oben im Norden nimmt alles als Zeichen. Und schließlich bricht auch noch das Fernsehen in diese Einöde ein. Gulli ist nun ein Medienstar wider Willen.

Alle sehen es: Gulli ist überaus fett. Dieses Bauchfett, das ihn so unattraktiv macht, hat ihm im kalten Wasser das Leben gerettet. Das zu wissen, braucht man keine Experimente. Olafur Darri Olafsohn spielt Gulli als einen, der sich erst (im Wasser) gegen sein Schicksal wehrt, nicht aufgibt, aber dann als Geretteter sich doch noch widerstandslos in das Schicksal zu ergeben scheint, ein »unklarer Fall« zu sein, der die ratlosen Wissenschaftler zunehmend verärgert.

Für Gulli ist es nicht wichtig zu wissen, ob sein Fett etwa eine besondere Konsistenz besitzt. Ähnelt es gar dem der Robben? Er muss unter den Menschen weiterleben, die, wenn sie ihn sehen, sofort an ihre gestorbenen Angehörigen denken. Und niemand hat Zeit dafür, zu bemerken, dass in der Unglücksnacht ein Mensch wie neu geboren wurde, der nach Maßgabe aller Vernunftgründe tot sein sollte.

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