Schüler als soziale Helden

Eine deutsche Jugendorganisation fördert Bildung und Freizeitangebote für syrische Flüchtlinge in Jordanien

  • Dieter Hanisch
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Verein »Schüler Helfen Leben« (SHL) setzt sich für syrische Kinder und Jugendliche in den Flüchtlingslagern Za'atari und King Abdullah Park in Nordjordanien ein. Er ermöglicht Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten - in Kooperation mit der örtlichen Partnerorganisation »Save the Children«.

In der Bundesgeschäftsstelle der Organisation Schüler Helfen Leben (SHL) in Neumünster herrscht rege Betriebsamkeit. Ordnung ist ein Fremdwort für die Büroräume in Bahnhofsnähe. Permanent klingeln Telefone, Papierberge und Akten stapeln sich auf Tischen, in Regalen und auf dem Boden. Der soziale Tag am 13. Juni mit freiwilligem Arbeitseinsatz außerhalb der Schule gegen einen finanziellen Obolus der Arbeitgeber ist gerade bewältigt. 1,6 Millionen Euro sind dabei zusammengekommen. Die Herausforderungen der mit dem Geld auch schon in den Jahren zuvor auf die Beine gestellten Hilfsprojekte beanspruchen die SHL-Verantwortlichen jedoch das gesamte Jahr. Zum bisherigen Engagement für Kinder und Jugendliche auf dem Balkan gesellt sich seit einigen Monaten noch die Zusammenarbeit mit der internationalen Initiative »Save the Children« in zwei Flüchtlingslagern in Jordanien, wo Zigtausende vom Bürgerkrieg gebeutelte Syrer Obdach und Schutz gesucht haben.

Tabea Brenner ist zurzeit eine viel gefragte Gesprächspartnerin. Zum x-ten Mal muss die 19-Jährige Journalisten, Politikern, Schulleitern und Elternvertretern erklären, wofür SHL steht und was es mit der europaweit größten Schüleraktion, hinter der ein sozialer Charakter steht, auf sich hat. Die junge Frau kommt aus Münster, absolviert ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) und ist bei SHL für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Beinahe wie ein Medienprofi erzählt sie, dass auch im 22. Jahr des Bestehens der Organisation schon wieder 800 Schulen und rund 80 000 Schüler beim Sozialen Tag mitgemacht haben, die meisten davon aus Schleswig-Holstein. Wohl noch bis zum September wird es dauern, bis das letzte Spendengeld auf dem SHL-Konto ist. Dann wird bereits Tabea Brenners Nachfolger oder Nachfolgerin darüber berichten, denn ihr FSJ endet im Sommer.

Das Flüchtlingscamp ist die viertgrößte Stadt

Sie gehörte zu einer siebenköpfigen SHL-Abordnung, die Anfang März für vier Tage das aus allen Nähten platzende Flüchtlingscamp Za'atari besucht und sich in der deutschen Botschaft in Jordanien Informationen aus erster Hand besorgt hat. Vor knapp einem Jahr wurde die Zeltstadt für ursprünglich 70 000 Flüchtlinge konzipiert. Heute leben dort rund 180 000 Menschen, und der Zustrom geht unentwegt weiter. Das Lager mitten in der Wüste ist inzwischen zur viertgrößten Stadt Jordaniens mutiert. »Die Bilder, die sich uns von dort eingeprägt haben, rütteln auf«, sagt Merle Goßing. Die 18-Jährige aus Eckernförde erhielt kürzlich eine Einladung von Schleswig-Holsteins Innenminister Andreas Breitner (SPD), dem im Zuge der Diskussion um die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen in Deutschland auch die persönlichen Eindrücke der SHL-Aktivisten wichtig waren. Diese schilderten ihm insbesondere persönliches Leid. Jeder zweite Campbewohner ist ein Kind oder Jugendlicher. »Viele haben ihre Eltern durch die kriegerischen Handlungen verloren oder sind durch die Flucht von ihnen getrennt worden«, weiß Tabea Brenner.

Was Lagerleben heißt, darüber kann die kleine SHL-Delegation dezidiert berichten. Sie hat gesehen, wie geduldig die Campbewohner an den Verpflegungs- und Wasserausgabestellen anstehen, um sich Brot oder das rationierte Reis, Mehl und Nudeln zu besorgen. Aber auch bewaffnete Soldaten, die aus Sicherheitsgründen zumindest an den Lagerrändern patrouillieren, gehören zum dortigen Alltag. Gewalt, Streitigkeiten und Kriminalität bleiben angesichts fehlender Verdienstmöglichkeiten und sinnvoller Freizeitbeschäftigung nicht aus. Diebstähle sind ebenso an der Tagesordnung wie Drogenhandel und -konsum sowie Zwangsprostitution. Einzelne Frauen werden immer wieder Opfer von Vergewaltigungen und trauen sich zum Teil nicht einmal sich zu waschen, weil sie sich vor Übergriffen fürchten. Das Kontrastbild liefern Fußball spielende Jugendliche oder Kinder mit leuchtenden Augen, die sich scharenweise über die Spielgeräte eines Spielplatzes hermachen. Unterricht und eine Schule im herkömmlichen Sinne gibt es nur mit Einschränkungen - vieles gleicht einem Provisorium auf engstem Raum. »Für alle Campbewohner ist es ein Leben im ungewissen Wartestand. Familiäre Schicksale, Gedanken an eine zeitlich unbestimmte Rückkehr, keine beruflichen Perspektiven«, könnte Merle Goßing die Liste aller Unwägbarkeiten noch um andere Dinge erweitern. »Und uns wurde auch mitgeteilt, wie groß dort die Angst vor Spitzeln des syrischen Geheimdienstes ist«, erzählt Tabea Brenner.

Alles das hat SHL auf den Plan gerufen - genau wie bereits 1992, als während des Jugoslawienkriegs Schüler erstmals für Menschen im Kriegsgebiet Beistand organisierten - zunächst in Form von Hilfsgütern, dann aber nach und nach mit Geld für den Aufbau von Kindereinrichtungen und Jugendzentren. Inzwischen wird auf dem Balkan ein Hauptaugenmerk auf eine mit pädagogischem Geschick verbundene Versöhnungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Region gelegt, wo so viele Volksgruppen noch immer voller Ressentiments miteinander leben.

Was Tabea Brenner und Merle Goßing beim Kurztrip in den Nahen Osten im Lager von Za'atari schnell klar wurde: Die junge Generation dort kann nicht weiter so einfach nur in den Tag hineinleben. Schnell ist in Gesprächen mit den vor Ort tätigen Kräften von »Save the Children« ein partnerschaftliches Konzept ausgearbeitet worden. Mit zunächst 50 000 Euro soll rund 600 Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren anhand von Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten eine perspektivische Chance geboten werden, den eigenen traumatischen Erlebnissen und dem täglichen Nichtstun zu entkommen. Dabei ist nicht nur an das Lager in Za'atari gedacht, sondern auch an das Camp von King Abdullah Park.

Lehrwerkstätten für Jugendliche

Wie darf man sich die Hilfe in der Praxis vorstellen? Darunter versteht SHL laut Tabea Brenner den Besuch von Trainingsparks und Lehrwerkstätten, in denen psychisch auf die Situation der Jugendlichen eingegangen wird und ihnen handwerkliche Fähigkeiten etwa in einem Berufsbildungszentrum mit auf den Weg gegeben werden. »Dazu gehören Grundkenntnisse von Schreinern, Nähen, Gärtnern oder Töpfern«, nennt die SHL-Sprecherin konkrete Beispiele. Mit den erlernten Fähigkeiten sollen sich die jungen Menschen fortan gegen die Zahlung eines Taschengeldes für das Wohl in ihren Familien und in der Lagerbevölkerung allgemein einsetzen. Das in den Lagern so erworbene Know-how kann aber auch später einmal außerhalb des Camps als Sprungbrett in Richtung Familie und Beruf dienen, versucht Merle Goßing zu erklären.

Was Mitte März hier in Deutschland mit Lichter-Mahnwachen wie in Berlin begann, um Aufmerksamkeit für die Not der Syrien-Flüchtlinge zu schaffen, mündete im Engagement für den Sozialen Tag. Alle SHL-Aktivisten sind mittlerweile - oft aus eigener Anschauung vor Ort - zu regelrechten Experten auf dem Balkan geworden. So entwickeln sie nun eine Kompetenz in allen Fragen rund um das Thema Syrien, wo es zwar um geopolitische Macht geht, es vor Ort aber eigentlich nur bei unermesslichem Blutzoll Verlierer gibt.

Innenminister Breitner jedenfalls lobte das SHL-Engagement und deren Gesprächspartner: Das sei für ihn sehr lehrreich gewesen. Die Initiative »Schüler Helfen Leben« durfte für ihr Wirken bereits mehrere renommierte Preise entgegennehmen. Zum Sozialen Tag wurde sie wiederholt ins Bundespräsidialamt oder zum Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein eingeladen. Gleichwohl weiß man in der Neumünsteraner Bundeszentrale der Schülerhilfsorganisation, dass im Massenelend der Flüchtlingslager ihre Hilfe auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.

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