Nahrungsmittelhilfe für 800 Millionen

Indiens Regierung sagt mit gigantischem Programm dem Hunger den Kampf an - zahlreiche Kritikpunkte der Opposition

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 3 Min.
Indien hat die meisten Unterernährten weltweit. Mit einem gigantischen Ernährungsprogramm will die Regierung sich jetzt verstärkt dieses Problems annehmen. Was allgemein Beifall auslösen müsste, stößt wegen Schwachstellen, offener Fragen und der ausufernden Bürokratie des Programms allerdings auf breite Kritik.

67 Prozent aller Einwohner Indiens sollen künftig Anspruch auf Nahrungsmittelhilfe haben. Die Zahl derer, die in den sogenannten Fair Price Shops Getreide weit unter den marktüblichen Preisen erwerben können, steigt damit auf rund 800 Millionen Menschen. Bislang sind es lediglich 24,3 Millionen Familien, die als die Ärmsten der Armen Bezugsscheine besitzen, mit denen sie sich pro Monat und pro Familie 35 Kilo verbilligten Reis abholen können. Die zusätzlich Berechtigten sollen jetzt Anspruch auf immerhin fünf Kilo Getreide pro Kopf erhalten: Reis soll für drei, Weizen für zwei, Hirse für eine Rupie (1,3 Eurocent) pro Kilo zu haben sein.

Am Bedarf besteht kein Zweifel, gerade Nichtregierungsorganisationen fordern seit Jahren, bei Wachstumsraten der Wirtschaft zwischen fünf und acht Prozent sowie nachweisbarem Anstieg der Mittelschicht die Armen nicht zu vergessen, die sich oft nicht einmal eine vollwertige Mahlzeit pro Tag leisten können. Allein 42 Prozent aller indischen Kinder unter fünf Jahren sind nach jüngsten Erhebungen unterernährt - was selbst Premier Manmohan Singh Anfang 2012 als »Schande« bezeichnete. Vermeidbar wäre auch die Erblindung von 320 000 Kindern wegen akuten Mangels an Vitamin A. Im Welthungerindex nimmt Indien 2012 unter 79 Ländern Platz 65 ein.

Dass die Regierung jetzt aktiv wird, stößt zwar auf Zustimmung - das Gesetz selbst jedoch ist höchst umstritten. Zwar hat das Kabinett bei seiner Entscheidung mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen einen prominenten Fürsprecher. »Das Gesetz durchzubringen, ist jetzt ein enorm wichtiger Schritt«, so der Entwicklungsökonom. Direkten Widerspruch erntet er allerdings bei Vandana Shiva. Die weltbekannte Aktivistin für Ernährungssouveränität, nachhaltige Landwirtschaft und Menschenrechte hatte in der Vergangenheit immer wieder eine solche Gesetzesinitiative gefordert. Was die Regierung jetzt vorlege, werde den Bedürfnissen aber nicht gerecht. Nichts werde getan, um die vielen Kleinbauern als Basis der Nahrungsmittelproduktion zu unterstützen, kritisiert die Aktivistin. »Das Gesetz untermauert vielmehr das bestehende System korporativer Gier und erlaubt den großen Firmen, Indiens Landwirtschaft zu übernehmen«, wird sie von der Deutschen Welle zitiert. Nicht ganz so hart in seinem Urteil ist Oliver de Schutter. Der UN-Sondergesandte für Nahrungssicherheit, der sich gerade in Indien ein Bild von der Lage macht, um im September vor der UN-Vollversammlung zu berichten, sieht das Gesetz als »Schritt in die richtige Richtung«, schreibt die »Hindustan Times«. Noch sei aber unklar, ob das Programm das Erhoffte bewegen könne. Andere kritisieren offen das »bürokratische Monstrum«, welches zudem die Staatskasse mit umgerechnet 22 Milliarden Dollar belastet.

Dass sich die Regierung bislang gescheut hat, ihren Plan der Volksvertretung zur Debatte vorzulegen, ist nicht nur aus Sicht der Opposition - von den Hindunationalisten der BJP bis zu den beiden kommunistischen Parteien CPI und CPI-M - undemokratisch. Auch Aruna Roy, eine weitere namhafte Sozialaktivistin, hatte schon Ende Mai bei ihrem Rücktritt aus dem Nationalen Beratungsrat (NAC) kritisiert, dass gerade ein Programm mit diesem Ansatz und dieser Dimension unbedingt nach einer breiten parlamentarischen Diskussion verlange.

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