Die Fäden in der Hand zu halten
Wolfgang Herrndorf ist tot. Selbst im Sterben erwies er sich als großer Schriftsteller
Wolfgang Herrndorfs Roman »Tschick« zu lesen, ist, wie ein irrwitziges Road-Movie zu sehen. Zu sehen? Man wird in diesen Film aus Worten und Sätzen hineingesogen. Zwei 14-jährige Außenseiter - Maik Klingenberg, vermeintlicher Langweiler aus fassadenheilem Kleinbürgerhaus und Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, Spätaussiedler mit Wodkafahne - fliehen die Randberliner Einöde im geknackten Lada Niva. Auf ihrer Spritztour durch Ostdeutschland begegnen die ungleichen Gleichen lauter märchenhaft guten Individuen und erleben Dinge, von denen sie vorher nicht ahnten, dass es sie geben würde. Am Ende begreifen die Jungs, wie befreiend, wie beglückend so ein Leben sein kann. Sein könnte. Ein Leben ohne Angst.
»Tschick« ist 2010 erschienen und hat seitdem Millionen Leser gefunden. Auch für die Bühne wurde der leichtfüßig tiefgreifende Jugendroman ohne Altersbegrenzung (nach oben) adaptiert. Für den Schriftsteller Wolfgang Herrndorf kam der überraschende Erfolg gleichzeitig mit seinem Todesurteil. Ärzte diagnostizierten bei ihm einen Hirntumor, unheilbar. Sehr viel länger, als die Mediziner es damals prognostizierten, hat Herrndorf intensiv mit dem »Hirnkrebs« gelebt und an literarischen Texten gearbeitet, die noch lange nachwirken werden.
In der Nacht zum Dienstag hat er seine Gratwanderung zwischen Leben und Tod beendet. Mit 48 Jahren ist Wolfgang Herrndorf gestorben.
An seiner Krankheit? Wie die Schriftstellerin Kathrin Passig, mit der Herrndorf befreundet war, gestern Nachmittag twitterte, hat er sich erschossen. Es passt zu diesem Menschen, das zuletzt schlicht nicht mehr erträgliche Ringen mit dem Tod nicht in einer Niederlage enden zu lassen. Er hat es gewissermaßen gewonnen, indem er den Kampf mit eigener Hand entschied, für sich. Herrndorf ist gleichsam dem Tod von der Schippe gesprungen. Dass dies ein Sprung aus dem Leben sein würde, war ohnehin nicht zu leugnen. Herrndorf gebührt großer Respekt dafür, mit welcher Disziplin, Gelassenheit - und oft genug sogar Heiterkeit - er sein Dasein als Mensch und als großer Künstler über Jahre aufrecht erhielt.
Als die Krankheit sein Leben schon in ihren Fesseln zu haben meinte, aus denen er sich aber mit Hilfe von Freunden, vor allem aber mit Arbeit, Anteilnahme am geistigen Leben und mit schier unglaublichem Witz immer wieder entwandt, vollendete er seinen großen Wüstenroman »Sand«. Nachdem schon »Tschick« für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, erhielt Herrndorf ihn 2012 endlich und völlig zu Recht für den Nachfolgeroman.
»Sand« ist ein Agententhriller, der seinesgleichen sucht und nicht findet. Er spielt vor dem Hintergrund des Geiseldramas in Münchens olympischem Dorf im Nordafrika des Jahres 1972 und handelt von einem Mann, der sein Gedächtnis durch einen Schlag auf den Hinterkopf verloren hat. In einer schweißtreibenden Odyssee durch die Wüste fahndet er nach seiner Identität. Am Erfolg dieser Fahndung voller Irrwege, Abgründe, Aufwinde, zerstiebender Hoffnungsmomente, scheinbar weltexistenzieller Geheimnisse und wiederkehrender Gewalt hängt sein Leben, und nicht allein seins. Der Gedanke, »dass unter den Bedingungen dieser Landschaft nicht nur ein Menschenleben unbedeutend war, sondern, philosophisch gesprochen, auch vier Menschenleben oder das Leben der ganzen Menschheit«, zieht sich durch dieses Buch, das ungeheuer spannend und dabei hoch intelligent der Frage nach dem Sinn des Lebens nachgeht. Oder der Frage nach dem Sinn des Sterbens. Herrndorf, womöglich amüsiert über so hoch hängende Lobesworte, nannte »Sand« lakonisch einen »Trottelroman«.
Geboren wurde er 1965 in Hamburg. Nach einem Studium der Malerei arbeitete er zunächst als bildender Künstler, u.a. für das Fanzine »Luke & Trooke« und für das Satiremagazin »Titanic«. Sein Debüt-Roman »In Plüschgewittern« erschien 2002. Schon im Titel dieses Buches, der Ernst Jüngers umstrittenes Weltkriegs-Epos »In Stahlgewittern« gleichsam ins Rosarote einer ausgepolsterten Nach-Nachkriegszeit bettet, scheint der tragische Witz auf, der für diesen Autor so typisch ist. 2004 gewann er beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis für eine Kurzgeschichte. Gebündelt mit weiteren erschien sie 2007 im Erzählband »Diesseits des Van-Allen-Gürtels«.
Seit Herrndorf von seiner Krankheit erfahren hatte, mied er strikt die Öffentlichkeit. Dafür schrieb er in unregelmäßigen Abständen hochliterarische »Tagebucheinträge« in sein Blog »Arbeit und Struktur«. Angetrieben vom »berufsbedingt unterdrückbaren Impuls, dem Lebensroman wie einem Roman zu Leibe zu rücken«, wie es in einem Eintrag heißt. Nichts wollte er weniger, als Mitleid erregen oder gar Voyeuren ein Fenster in seine Stube öffnen. Stattdessen: »die sich im Akt des Schreibens immer wieder einstellende, das Weiterleben enorm erleichternde, falsche und nur im Text richtige Vorstellung, die Fäden in der Hand zu halten und das seit langem bekannte und im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte Ende selbst bestimmen und den tragischen Helden mit wohlgesetztem, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt«.
Diese Zeilen heute erneut lesend, kann man Wolfgang Herrndorfs selbstbestimmtes Scheiden aus dem Leben als auch literarische Tat begreifen. Ein Trost.
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