Von Türöffnern, Ikea-Möbeln und Flotten Dreiern

Matthias Stuchtey in der Galerie im Rathaus Tempelhof

  • Izabela Dabrowska-Diemert
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Spiel mit der De- und Rekonstruktion von vorgefundenem Material ist eines der großen Themen des künstlerischen Schaffens von Matthias Stuchtey. So zersägt der 1961 in Münster geborene und seit 1996 in Berlin lebende Bildhauer etwa in seiner Serie »Raumöffner« aus den 90er Jahren Eisen- und Holztüren und setzt diese wieder zu teils völlig verfremdeten abstrakten, teils das Ursprungsobjekt noch erkennbar lassenden Skulpturen zusammen, die - ihrer Funktionalität enthoben - ein neues, mal poetisches, mal skurriles Eigenleben erhalten.

Auch in seiner derzeit in der Galerie im Rathaus Tempelhof zu sehenden Ausstellung »selfstorage«, in der sich der Künstler mit Räumen, Behausungen und architektonischen Strukturen beschäftigt, kommt dieses Prinzip zum Tragen. So entstand beispielsweise eine unerwartet filigrane, an einer Wand prozesshaft in die Horizontale gewachsene Skulptur aus Einzelteilen einer zunächst sorgfältig aufgebauten, danach wieder zersägten und im Anschluss zu kleinteiligen Raumelementen neu kombinierten Ikea-Kommode namens »Ludvig«. Derart schafft Stuchtey durch einen vermeintlich destruktiven Akt aus dem Material eines normierten, massenhaft hergestellten und weltweit in unzähligen Wohnungen zu findenden Möbelstücks ein Kunstwerk, das in variierenden dynamischen Formen und unterschiedlich großen Gebilden Gestalt findet.

Den schrittweisen Transformationsprozess vom Ausgangs- zum gleichnamigen Kunstobjekt und wieder zurück zeigt ein kurzer, neben der Skulptur auf einem kleinen Flachbildschirm präsentierter Film, der aus schnell wechselnden und mit einer minimalistischen Klangkomposition rhythmisch hinterlegten Einzelbildern besteht und den Wandel Stück für Stück puzzleartig nachvollzieht. Aus dem Bekannten und Banalen wird etwas Andersartiges, Neues, das Irritation und Staunen auslöst.

Aus Monotonie und Gleichheit wird überraschende Vielgestaltigkeit, die sich zudem in der Vorstellungskraft des Betrachters - der automatisch beginnt, eigene Anordnungen und Formationen der Segmente im Kopf zu imaginieren - fortsetzt. Stuchteys Werkbegriff ist demnach ein erweiterter: Durch die Offenheit der Arbeit wird die Fantasie des Betrachters aktiviert und so ein neuer Blick auf die ihn für gewöhnlich umgebenden Alltagsgegenstände und seine eigene Umwelt eröffnet.

Die Beschäftigung des Künstlers mit Architektur zeigt sich in der Ausstellung deutlicher in der Arbeit »Dislocation« von 2009, deren Titel - im Deutschen »Verlagerung« - ganz konkret auf den Wechsel von Wohnorten verweist. Auch die Formensprache des quadratischen, aus einzelnen, unterschiedlich großen und mit einer Öffnung versehenen, dreidimensionalen Modulen bestehenden Objekts lässt an urbanen Wohnungsbau denken. Das Nebeneinander der in sich abgeschlossenen räumlichen Körper scheint die Anonymität und Vereinzelung widerzuspiegeln, wie sie gemeinhin in Großstädten und Siedlungen mit großen Häuserblöcken vorzufinden ist. Jedoch wirkt die Skulptur keineswegs grau und trist, sondern, bedingt durch die Verwendung diverser, zum Teil mit Pastellfarben angemalter Holzsorten, eher einladend. Hier eröffnet sich eine soziale Dimension der Arbeit, die man als einen Kommentar zu bestehenden Verhältnissen und einen utopischen städtebaulichen Gegenentwurf deuten kann.

Jedoch ist auch hier die Lesart keinesfalls vorgegeben, denn Stuchteys fein komponierte Konstrukte können ganz für sich stehen und auf einer sinnlich-ästhetischen Ebene erfahren werden, ohne dass sie mit Bedeutung und einem bestimmten Sinn aufgeladen werden müssten. Das zeigen beispielsweise auch seine mit Aquarell, Beize und Tusche gearbeiteten Malereien von 2013, auf denen gelbliche, vertikal oder horizontal angeordnete Streifen vor einem schwarzen Hintergrund hervorstechen und beleuchtete Fenster von in die Nacht versunkenen Architekturen evozieren. Bewusst tragen sie aber keinen Titel, so dass sich diese Assoziation nicht zwangsläufig aufdrängt, sondern eher aus dem Kontext der Ausstellung ergibt. Gleichermaßen wie die ebenfalls unbetitelten, daneben präsentierten vielschichtigen Collagen, können diese Papierarbeiten als ein freies Spiel von Form und Farbe begriffen werden.

Auch die dreiteiligen, über eine ganze Wand verteilten »Gehäuse« mit dem ironischen Titel »Flotte Dreier« von 2011-2013 verweisen nicht etwa auf sexuelle Praktiken, sondern gänzlich selbstreferenziell auf ihre Bestandteile, das heißt die drei verschiedenen Holzwerkstoffe, wie etwa Spanplatte, Obstkisten- und Furnierholz, aus denen die einzelnen Elemente gebaut sind. So gelingt Matthias Stuchtey auch über das bloße Wortspiel eine Sinnverschiebung, die zu weiteren Erkundungen und vor allem zu einem generellen Hinterfragen des Gegebenen einlädt - auch über den Ausstellungsraum hinaus.

Bis 19. September in der Galerie im Rathaus Tempelhof, Tempelhofer Damm 165, Mo-Fr 9-18 Uhr, Eintritt frei.

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