In Sippenhaft
»Ummah - Unter Freunden« von Cüneyt Kaya
In der rechten Szene kennt Daniel sich bestens aus: Er ist einer dieser mittlerweile ziemlich diskreditierten Verfassungsschutzagenten, die verdeckt bei Neonazis arbeiten. Als es zu einem tödlichen Schusswechsel kommt, bei dem auch Daniel (Frederick Lau) verletzt wird, muss er fort aus Sachsen. Und wird in einer Dienstwohnung versteckt, die so weit weg liegt von seiner bisherigen Szene, wie es nur irgend geht: unter den muslimischen Migranten von Berlin-Neukölln.
Daniel, versehrt und ausgebrannt, spricht weiter gewohnheitsmäßig seine Eindrücke in das dienstliche Aufnahmegerät und versucht ansonsten, Alltag herzustellen und Boden unter die Füße zu bekommen. Der Fernseher aus dem Laden um die Ecke funktioniert nicht, der libanesische Händler bietet einen Reparaturtermin in Daniels Wohnung an. Bei Tee und Keksen gewinnt Daniel so einen ersten Neuköllner Kumpel. Bald sind es drei. Daniel findet sich auf einer muslimischen Hochzeit wieder und mit den anderen im Koranunterricht. Und er ist bei einer Sprayer-Aktion dabei, um freizügige Werbeplakate (in Kindergartennähe) islamkonform mit Kleidung zu versehen.
Denn mit der Rücksichtnahme auf muslimische Sensibilitäten ist es von geburtsdeutscher Seite nicht weit her. Der alltägliche Rassismus beginnt beim Taxi-Fahrer, der den Zielort Neukölln ungefragt kommentiert, das sei doch jetzt das letzte Loch, auch wenn es früher mal ganz schön gewesen sei - und damit die Migranten meint. Er setzt sich fort mit der nächtlichen Polizeistreife, die den blonden Daniel nach Hause schickt, aber seine beiden dunkelhaarigen Begleiter festhält - weil »wieder mal« ein Dunkelhaariger einen Supermarkt überfallen und die Alarmanlage ausgelöst habe. Sippenhaft ist hier eine Umschreibung für das, was einem jeden Tag passieren kann.
Der wortführende Polizist ist entweder echt oder ein besserer Schauspieler als selbst noch der verlässlich sehenswerte Lau. Überhaupt ist der Film bis in die Nebenrollen exzellent besetzt und lebensnah gespielt - ob es die Kindergärtnerin mit Kopftuch und Berliner Sprachmelodie ist oder eine spitzzüngig-unterkühlte Eleonore Weisgerber als (selbst nicht ganz »koschere«) Frau für die pressetechnische Schadensbegrenzung beim Verfassungsschutz. Von Kida Khodr Ramadan und Burak Yiğit in den »muslimischen« Hauptrollen ganz zu schweigen.
Ein anderes Bild vom muslimischen Leben in deutschen Großstädten wollte Regisseur Cüneyt Kaya zeichnen. Und das ist ihm gelungen. Selbst ist Kaya in Berlin-Wedding aufgewachsen, aber sein Spielfilmdebüt siedelte er in Neukölln an: weil dort die Koranstunde selbstverständlicher zum Alltag gehört, wie er sagt. Er schildert sie als nachdenklichen Moralunterricht, weit weg von jedem Versuch, irgendjemanden zu irgendwas zu konvertieren. Und natürlich stellt sich auch das spontane Zusammenrotten muslimischer Männer, wenn einer aus ihrer Mitte es mit der uniformierten Staatsgewalt zu tun bekommt (hier ist es diesmal Daniel), von der »anderen« Seite ziemlich anders dar. Was nicht nur in Neukölln längst ein massives Problem für die Polizeiarbeit darstellt, wird hier als Akt der Solidarität geschildert, der dazu dient, sich gegenseitig vor den regelmäßigen Übergriffen zu schützen.
Den Flirt zwischen dem Ex-Nazi und den Berliner Muslimen beendet ein Korruptionsfall im Verfassungsschutz - und der ist beinahe zum Lachen, im Vergleich zu den NSU- und NSA-Affären.
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