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Tödliche Wissenschaft

Vor 75 Jahren entwickelte der deutsche Chemiker Gerhard Schrader den Nervenkampfstoff Sarin

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Frühjahr 1945 hatte die deutsche Wehrmacht einen Großteil ihrer chemischen Waffen in der Heeresmunitionsanstalt Urlau bei Leutkirch gelagert. Dort, im Allgäu, sollten die Kampfstoffe gemäß Hitlers berüchtigtem »Nero-Befehl« kurz vor dem Eintreffen der Alliierten gesprengt werden. Dass dies nicht geschah, verdankt die Nachwelt vor allem zwei Männern: dem für Urlau zuständigen Major Günter Zöller und dem Mediziner Friedrich Jung, der später einer der führenden Pharmakologen der DDR wurde. In Abstimmung mit Jung entschloss sich Zöller, die Kampfstoffe den anrückenden französischen Truppen zu übergeben. Wäre die Sprengung damals erfolgt, meinte Jung 1989, würde man Leutkirch heute vielleicht neben Hiroshima und Nagasaki zitieren, wenngleich in Verbindung mit einem anderen Massenvernichtungsprinzip.

Denn in den 1930er und 1940er Jahren hatten deutsche Wissenschaftler drei der gefährlichsten chemischen Kampfstoffe entwickelt, die man bis heute »G-Kampfstoffe« nennt (G für Germany). Neben Tabun und Soman zählt dazu auch das Nervengift Sarin, das unlängst im syrischen Bürgerkrieg zum Einsatz kam. Wer die tödlichen Chemiewaffen dort verschoss, ist bisher allerdings nicht mit Sicherheit geklärt. In anderen Fällen gibt es solche Zweifel nicht. So setzte etwa die chilenische Militär-Junta unter Augusto Pinochet selbst hergestelltes Sarin gegen Oppositionelle ein. Auch der irakische Diktator Saddam Hussein - damals noch ein geschätzter Verbündeter der USA - scheute sich während des Ersten Golfkriegs (1980-1988) nicht, kurdische Männer, Frauen und Kinder im eigenen Land mit Saringranaten zu beschießen. Obwohl dabei mehrere tausend Menschen qualvoll starben, scheiterte eine Verurteilung des Angriffs im UN-Sicherheitsrat am Veto der USA. 1995 schließlich verwendete die japanische Aum-Sekte Sarin für einen Terroranschlag in der U-Bahn von Tokio. 12 Menschen starben, fast 5000 wurden verletzt.

So unterschiedlich motiviert diese Verbrechen auch waren, ihre technische Realisierung geht zurück auf eine Erfindung des deutschen Chemikers Gerhard Schrader, der während der Nazi-Diktatur bei den I.G. Farben in Leverkusen und Elberfeld an neuen Insektiziden forschte. Dabei synthetisierte er 1936 eine Phosphorverbindung, die so giftig war, dass sie als Pflanzenschutzmittel nicht in Frage kam. Stattdessen interessierte sich das Heereswaffenamt für die Substanz, aus der man eine neue chemische Waffe, ein Nervengift, entwickelte, das den Namen »Tabun« erhielt. Dies geschah unter strengster Geheimhaltung, so dass die Alliierten bis Kriegsende nichts von Nervenkampfstoffen wussten. Als Schrader 1938 auf eine noch giftigere Substanz stieß, war erneut die Wehrmacht zur Stelle und fügte ihrem Arsenal ein weiteres Nervengift hinzu, das ab 1943 »Sarin« genannt wurde.

Sarin gehört zur Gruppe der Phosphorsäureester und ist eine bei Zimmertemperatur farb- und geruchlose sowie leichtflüchtige Flüssigkeit. Das Gift kann über die Haut aufgenommen oder eingeatmet werden, so dass man einen Ganzkörper-Schutzanzug und eine Atemschutzmaske tragen müsste, um sich davor zu schützen.

Die Wirkung von Sarin beruht auf einer Störung der neuronalen Signalübertragung. Genauer gesagt blockiert es den Abbau des Botenstoffs Acetylcholin und verhindert so, dass aktivierte Nervenzellen gleichsam in den Ruhezustand zurückkehren können. Dadurch kommt es bei den Opfern zu einer dauerhaften Erregung des Nervensystems, die oft schon nach wenigen Minuten zu einer Lähmung der Atemmuskulatur und damit zum Tod führt.

Ende der 30er Jahre wurden die neuen Kampfstoffe im Heeresgasschutzlaboratorium auf der Spandauer Zitadelle in Berlin erprobt - und zwar an Tieren und Menschen. Bis heute besteht der Verdacht, dass man für solche Versuche nicht nur Freiwillige rekrutierte, sondern ähnlich wie im KZ Sachsenhausen auch Häftlinge und zum Tode verurteilte Strafgefangene einsetzte.

Ab 1942 produzierten die I.G. Farben im schlesischen Dyhernfurth (heute polnisch Brzeg Dolny) rund 12 000 Tonnen Tabun, die von Zwangsarbeitern in Granaten und Bomben gefüllt wurden. Die Menge des bis Kriegsende hergestellten Sarins lag dagegen nur bei ca. 30 Tonnen. Im Kampfstoffwerk Falkenhagen bei Berlin war allerdings eine weitere Produktionsanlage im Bau, die ab Frühjahr 1945 monatlich 500 Tonnen Sarin liefern sollte. Aber bevor es dazu kam, wurde die Anlage im Februar 1945 nach Leese in Niedersachsen verlagert, um sie dem Zugriff der bereits an der Oder stehenden Roten Armee zu entziehen.

Gerhard Schrader, dessen Name im Anfangsbuchstaben des Wortes Sarin verewigt ist, geriet im Mai 1945 in US-amerikanische Gefangenschaft. Er kam für einige Monate auf das Schloss Kransberg im Taunus, wo er auf Anordnung der US-Armee seine Erkenntnisse über organische Phosphorsäureester niederschreiben musste. Anschließend wurde gegen ihn Anklage erhoben, diese aber bald wieder fallengelassen. Stattdessen bot man ihm an, nach England zu gehen. Doch Schrader lehnte ab. Er arbeitete weiter bei der Bayer AG in Leverkusen, wo er 1952 das Insektizid »Systox« entwickelte. 1956 wurde er von der Gesellschaft Deutscher Chemiker in der BRD für seine Verdienste in der Forschung mit der Adolf-von-Baeyer-Gedenkmünze ausgezeichnet. Außerdem verliehen ihm die Universitäten Bonn und Braunschweig sowie die Tierärztliche Hochschule Hannover den Ehrendoktortitel. Schrader starb am 10. April 1990 mit 87 Jahren in Cronenberg bei Wuppertal.

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