Die Kultur der Pause
Plädoyer für einen anderen Umgang mit unserer Lebenszeit
Weil unsere Erde immer langsamer um ihre Achse rotiert, werden die Tage länger, pro Jahrtausend etwa fünf Sekunden. Der Tag war also fast zwei Stunden kürzer, als vor rund zwei Millionen Jahren aus affenähnlichen Ahnen die ersten Menschen entstanden sind. Die damals beginnende Ära der Jäger und Sammler reicht bis zur »neolithischen Revolution« vor rund 10 000 Jahren. Die damaligen Gemeinwesen waren klein an Zahl, aber reich an Muße und Miteinander. Den meisten Stammeskulturen genügen bis heute zwei bis drei Stunden am Tag zur Existenzsicherung: Der Rest dient dem Erzählen endloser Geschichten, Spielen, Ritualen, Musik und Tanz.
Der Imperativ »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!« gilt erst, seit Getreide angebaut und Brot gebacken wird - seit dem Übergang zur sesshaften Agrargesellschaft. Um den Anthropologen Ernest Gellner zu zitieren: »Hegel hatte die Weltgeschichte als einen Prozess skizziert, der von einem Staat, in dem einer frei ist, über einen Zustand, in dem einige Freiheit haben, schließlich zu einem Kulminationspunkt führt, an dem alle Freiheit genießen. Wir könnten heute, weniger pathetisch, dieses Schema durch ein anderes ersetzen, bei dem ursprünglich alle dem Müßiggang frönen, und dann nur noch einige wenige und schließlich, unter der Herrschaft des Arbeitsethos, niemand mehr.«
Das moderne Arbeitsethos entstand in der frühen Neuzeit, und der Physiker Benjamin Franklin (1706-1790) lieferte ihm mit dem Satz »time is money« ein passendes Leitmotiv. Etwas älter ist das Motto »wisdom is power« des britischen Lordkanzlers Francis Bacon (1561-1626): »An die Stelle des Glückes der Betrachtung tritt die Sache des Glückes der Menschheit und die Macht zu allen Werken«.
Lebensdauer hat deutlich zugenommen
Ob die »Macht zu allen Werken« für den Menschen und seine Seele von Vorteil war, bleibt fraglich. Zwar hat unsere Lebensdauer und mit ihr die von Erwerbsarbeit freie Zeit vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich zugenommen; andererseits hat der moderne »außengeleitete Charakter« (so der Soziologe David Riesman) nicht nur ständig »Synchronisationsleistungen« zu erbringen, um im Mainstream mitzuschwimmen - auch die »Freizeit« ist massivem Leistungsdruck unterworfen, dem Streben, etwas »erleben« zu müssen, und begleitet von der ständigen Angst, etwas Besseres, ja das Entscheidende, zu versäumen.
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat an Riesman anknüpfend gezeigt, dass dieser »außengeleitete Charakter« weniger vom inneren Konflikt zwischen Gewolltem und Erlaubten und vom Schuldgefühl, sondern von der Depression, dem Zurückbleiben hinter dem Anspruch an sich selbst geplagt wird: »Die beiden Gegensätze erlaubt/verboten, die das Herz der neurotischen Problematik sind, gehen nun auf in der Polarität möglich/unmöglich.« Die Depression erweist sich als Krankheit, in der nicht Schuld, sondern Insuffizienz das Leben vergiftet. Aus »Herkules am Scheidewege«, der sich zwischen Neigung und Pflicht zu entscheiden hat, wird Herkules der Ausgebrannte, der sich mit seinem Erlebnishunger beim gierigen Streben nach Glück schlicht zu viel zugemutet hat (Einzelheiten in meinem Buch »Die seelenlose Gesellschaft«, München 2012).
Die Industriegesellschaft, die vor etwa 50 Jahren zur Konsum- und Kommunikationsgesellschaft mutierte, verdankt die große Vielfalt, die sie bietet, einer starken Vereinheitlichung, auch im zeitlichen Bereich. Eine einzige Weltzeit, in Zeitzonen eingeteilt, regiert die Erde von Basel bis Bali. In den Börsen von Hongkong bis London werden Wertpapiere unter den Rahmenbedingungen dieser Weltzeit binnen Sekundenbruchteilen gehandelt. Dieser Entwicklung liegt das Konzept einer einheitlichen Natur zugrunde, für die überall gleiche Regeln gelten und der wir mit unserer instrumentellen Vernunft zu Leibe rücken. Für die Lebensgestaltung empfiehlt sich das rationelle Kalkül von Zwecken und Mitteln: Der vernünftige Akteur achtet darauf, bei der Arbeit möglichst viel Geld zu verdienen und in der Freizeit möglichst viel zu erleben, wenn er es wieder ausgibt.
Ein rationaler Sinn
Die »primitiven« Jagd- und Sammelkulturen indes, in denen Muße so hoch im Kurs stand, waren - mit Ernest Gellner gesprochen - »mehrspurig«. Die Gegenwart beschreibt Gellner so: »In einer komplexen und großen, atomisierten und spezialisierten Gesellschaft können einspurige Aktivitäten einen ›rationalen‹ Sinn haben. Sie gehorchen dann einem einzigen Zweck oder Kriterium, dessen Erfüllung einigermaßen präzis und objektiv beurteilt werden kann. Ihre instrumentelle Wirksamkeit, ihre ›Rationalität‹, läßt sich überprüfen. Wer zum Beispiel einen Kauf tätigt, wird von dem einfachen Interesse geleitet, die besten Ware zum billigsten Preis zu erstehen.«
Es bedarf kaum der Erläuterung, dass diese überprüfbare Rationalität auch eine sozial verbindliche, technisch präzise messbare einheitliche Zeit voraussetzt. Wie aber sah es früher aus? Gellner meint: »Wer in einer Stammesgemeinschaft etwas von seinem dörflichen Nachbarn kauft, sieht sich nicht nur einem Verkäufer gegenüber, sondern auch einem Sippengenossen, einem Menschen, der mit ihm zusammenarbeitet, mit ihm verbündet ist oder konkurriert, seinem Sohn möglicherweise die Braut liefert, mit ihm gemeinsam zu Gericht sitzt, an Ritualen teilnimmt, das Dorf verteidigt, in der Ratsversammlung sitzt.
Diese ganzen vielfachen Beziehungen gehen in die ökonomische Transaktion ein und hindern beide Parteien daran, sie nur isoliert unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt zu sehen. In einem vielsträngigen Kontext dieser Art ist ein ›rationales‹ ökonomisches Verhalten, das sich ausschließlich am Gewinndenken orientiert, ausgeschlossen. Solch ein Verhalten würde sich in katastrophaler Weise über die vielen anderen Erwägungen und Rücksichten hinwegsetzen, die bei dem Handel eine Rolle spielen und ihn beschränken. Diese anderen Erwägungen sind vielfältig, nicht zu überschauen, ineinander verwoben und häufig unvergleichbar und lassen sich deshalb in keine Kosten-Nutzen-Rechnung einbeziehen.«
Aktives Partisanentum
Kein Wunder, dass die Moderne keine Pausen mehr kennt - es ist quasi ein Akt aktiven Partisanentums, auf ihnen zu bestehen. Das Wort »Pause« stammt von altgriechischen Verbum »pauein«, was »aufhören machen« heißt. Mit der Pause ist ein Wechsel vom Passiv ins Aktiv verbunden: Während wir den Fluss der Zeit passiv erleben, wird dieser Ablauf von uns durch die Pause aktiv unterbrochen. Darin liegt bereits ein erster Vorteil, den wir aus einer »Kultur der Pause« ziehen: Wir machen uns damit wieder zu Herren unserer Zeit. Denn wir sind ja umgeben von Dieben, die uns Zeit stehlen, und alle vermeintliche Zeitersparnis erweist sich meist als Schwindelunternehmen. Durch die bewusst als Kontrapunkt in den hektischen Alltags-Ablauf gesetzte Pause werden wir wieder zum Souverän, der nach Gutdünken über seine Zeit verfügt.
Zweitens: In einer bewusst in die Alltagshektik eingeschalteten Pause, die der Muße und Entspannung dient, wird uns das ineinander verwobene Miteinander von reversibler, zyklischer und irreversibler, gerichteter Zeit praktisch bewusst, unmittelbar spürbar. Die Weisung vieler östlicher Meditationstechniken, zu Beginn des Meditierens die eigenen Atemzüge zu zählen, macht das in sinnfälliger Weise klar: Das Atmen ist ein rhythmischer, zyklischer Vorgang, aber ein Atemzug folgt auf den anderen, bis irgendwann im Leben der allerletzte an der Reihe ist. Zeit ist Vielfalt - sie wird uns, wenn wir in der Pause innehalten und auf sie achten, sie auf uns wirken lassen als komplexer Prozess deutlich, kreisend und gerichtet zugleich. Die Hingabe an die Gegenwart lässt uns Veränderungen bemerken, über die wir sonst achtlos hinweggehen - den Gesang der Vögel, die Veränderung des Lichts, das Spiel der Wolken, das Vorrücken des Mondes... Wenn wir weniger oder am besten gar nichts tun, werden wir nicht ärmer, sondern reicher! Man denke an die Verse, die Rainer Maria Rilke fortschrittskritisch den Stahlgewittern der Moderne entgegenhielt:
»Wir, Gewaltsamen, wir leben länger.
Aber wann, in welchem aller Leben,
Sind wir endlich offen und Empfänger?«
Drittens: Auf die skizzierte Weise kann uns auch die Mehrsträngigkeit des sozialen Lebens wieder deutlich vor Augen treten, die in der Moderne vielfach begradigt und planiert worden ist - zum Schaden unseres Seelenlebens. Das zarte Gewebe, in das wir eingebunden sind, tritt uns wie ein Spinnennetz im Sonnenlicht umso deutlicher vor das innere Auge, je länger und je intensiver wir es zu erspüren versuchen. Wir können wieder lernen, auf unsere innere Stimme zu hören, die ein verlässlicherer Kompass für Wertentscheidungen ist als die eindimensionale, instrumentelle Vernunft der Marktgesellschaft, derzufolge Zeit Geld ist und jeder Mann seinen Preis hat.
Viertens und letztens schult die Pause unseren Möglichkeitssinn. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat uns belehrt, die Welt sei alles, was der Fall ist, aber den in Wien zeitweise im selben Haus Rasumofsky-Gasse 34/11 wohnenden Schriftsteller Robert Musil trieb eine andere Vision um, nämlich die, dass zur Welt auch gehört, was der Fall sein könnte. Der Protagonist in Musils unvollendetem Hauptwerk, »Der Mann ohne Eigenschaften«, Ulrich, ist das, was der Verfasser einen »Möglichkeitsmenschen« nennt: »Solche Möglichkeitsmenschen leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven; Kinder, die diesen Hang haben, treibt man ihn nachdrücklich aus und nennt solche Menschen vor ihnen Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler«.
Die Pause schafft eine Bühne, auf der der Möglichkeitssinn zu spielen beginnt, und damit öffnet sie uns die Türe zu anderen Welten, Welten hinter der Alltagsrealität, aber reicher und anregender als diese. Es liegt an uns, ob wir uns Zugang zu ihnen verschaffen wollen oder nicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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