Bedenkenswerte Gegenangriffe
Oliver Stone verfasste eine »Unerzählte Geschichte der USA«, die ab dem 30. September auch im deutschen TV zu sehen ist
Die Ehrung mit drei »Oscars«, ein weltbekanntes Filmwerk und nicht mal der Wechsel zum Buddhismus haben Oliver Stone zu heiterer Gelassenheit geführt. Der New Yorker ist genervt - und hat daraus in den letzten fünf Jahren einen Kreativitätsschub bezogen. Dessen Ergebnis in Form einer 10-teiligen Fernsehdokumentation und eines dicken Begleitbuchs stößt auf viel Interesse, viel Kritik und leichte Lynchstimmung. Stone genießt das Eine wie das Andere. Er wusste, worauf er sich - mit dem Historiker Peter Kuznick - einließ, als er »The Untold History of the United States«, eine bisher unerzählte USA-Geschichte schrieb.
Sie konzentriert sich auf die Zeit von 1940 bis zu Barack Obamas Einzug ins Weiße Haus Anfang 2009, und sie ist das Werk eines agent provocateur, ein Gegenangriff auf die Selbstdarstellung der USA als gottgefälliger Leitstern für die Welt. Der »Guardian«, der den Amerikaner vor der Ausstrahlung der TV-Doku in Britannien interviewte, schrieb mit Blick auf Stones »Oscars«: »Wenn er die Lynchjustiz durch halbstarke, neokonservative Moderatoren übersteht, hätte er eine weitere Ehrung verdient.«
Zu den Höhepunkten seiner Alternativ-Geschichte, der Gegenentwurf zur »keimfreien Disney-Version (…), in der Amerika immer siegt und stets im Recht ist«, gehören Thesen wie: Die erste Atombombe der Geschichte basiert auf einer Lüge; der geheime Krieg der CIA gegen fortschrittliche Regierungen Mittelamerikas gründet auf herbeifantasierter kommunistischer Bedrohung; die Kriege gegen Irak und Afghanistan waren verrückt und: Die USA sind ebenso doppelzüngig, korrupt und tyrannisch, expansionistisch und rassistisch wie das britische Empire.
Stone, berühmt geworden mit Filmen wie »Platoon«, »Geboren am 4. Juli« und »John F. Kennedy«, »Nixon«, oder »Natural Born Killers«, nennt als Impuls für seinen Revisionismus den Umstand, dass seinen Kindern »noch immer der gleiche Quark erzählt« wird wie in seiner Jugend. »Meine 17-jährige Tochter geht auf eine gute Schule, wo es nach wie vor heißt, Japan hätte nie kapituliert, wenn nicht die Atombombe den Krieg beendet und das Leben vieler Amerikaner gerettet hätte.« Seine und Kuznicks Theorie dagegen: Trumans Entscheidung, 1945 in Hiroshima und Nagasaki Atomwaffen einzusetzen, zielte weniger auf Japans Kapitulation, als darauf, Stalin und die Sowjetunion einzuschüchtern und sie am Einmarsch in Japan zu hindern.
Nach Stones Überzeugung haben die ersten Atombomben ein nukleares Wettrüsten und den Kalten Krieg ausgelöst. Überhaupt hätten sich nach seiner Ansicht, wie der »Guardian« bemerkt, »die USA seit jenen zwei schicksalhaften Tagen im August 1945 durchweg im unheilvollen Griff militärischer und hegemonistischer Verblendung befunden.« Sie gaben vor, demokratische Ideale zu verbreiten und erweiterten doch nur ihre Kontrolle rund um den Erdball. Stone wörtlich: »Wir zeigten, dass wir so barbarisch sind, wie man sich das nur vorstellen kann. So rücksichtslos die Russen bei Kriegsende in Deutschland auch waren, wir konnten noch rücksichtsloser sein. Wir hatten kein Problem damit, die Atombombe gegen Zivilisten einzusetzen - das war ein Kriegsverbrechen. Hätten die Deutschen die Bombe abgeworfen und den Krieg verloren, wäre die Atomwaffe immer stigmatisiert gewesen. Es hätte ein internationales Abkommen gegeben, um sie zu bannen.«
Das einzige Kind von Vater Louis (Börsenmakler und nichtreligiöser Jude) und Mutter Jacqueline (Französin und nichtpraktizierende Katholikin) wurde Stone nach eigenen Worten als Republikaner vom Typ Eisenhowers erzogen. Die Angst vor kommunistischer Verschwörung veranlasste ihn, freiwillig in Vietnam zu kämpfen. Er habe sich als Patriot gefühlt. Nicht Vietnam habe ihn radikalisiert, erst die CIA-Aktionen in den 1980er Jahren in Mittelamerika: »Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, als ich das Ausmaß unserer Präsenz in Guatemala erlebte. Wir bildeten Todesschwadronen aus und finanzierten diese Einheiten, die so viele Massaker verübten. Ich sah, was wir in Salvador, Honduras und Nicaragua anrichteten. Für Reagan hieß das Ziel, die Kommunisten daran zu hindern, die Kontrolle über die Region zu gewinnen. Damals dachte ich: Eine Neuauflage Vietnams! Vielleicht war ich dämlich, doch es kostete mich 15 Jahre, bis ich kapierte. Mit einem Mal erkannte ich, dass Amerika sich als Tyrann aufführt, und ich hasste es dafür. Von da an machte ich fortschrittliche Filme.«
Solche Erweckungserlebnisse braucht ein Bruder im Geiste Stones schon länger nicht: Der australische Journalist und Dok-Filmer John Pilger (Jg. 1939), von dem der knarzig-kritische Literaturnobelpreisträger Harold Pinter sagte: »John bringt mit stählerner Hartnäckigkeit die Tatsachen, die schmutzigen Wahrheiten ans Licht«, dieser Pilger verweist jetzt vor dem Hintergrund der konventionellen wie chemischen Kriegsverbrechen in Syrien auf Washingtons gespaltene Zunge. Er erinnert an einen Bericht des US-Senats von 1970, der mitteilte: »Die USA haben Vietnam mit chemischen Giften (Dioxin) in einem Umfang von sechs Pfund pro Einwohner belegt.« Pilger, der von 1963 bis 1986 die Auslandsredaktion des britischen »Daily Mirror« leitete und mit den höchsten britischen Journalistenauszeichnungen geehrt wurde, wörtlich: »Ich habe Generationen von Kindern mit den bekannten monströsen Körperentstellungen gesehen. John Kerry, mit seiner eigenen blutgetränkten Kriegsakte, wird sich an sie erinnern. Ich habe solche Opfer in Irak gesehen, wo die USA abgereicherte Uranmunition und weißen Phosphor eingesetzt haben, so wie es Israel in Gaza tat. In all diesen Fällen gab es keine von Obamas ›roten Linien‹.«
Als wollte Pilger ein neues Kapitel zu Stones unerzählter US-Geschichte beisteuern, erklärt der Mann aus Sydney: »Unter dem ›schwachen‹ Obama hat sich der Militarismus beispiellos entwickelt. Ohne einen einzigen Panzer auf dem Rasen des Weißen Hauses lief in Washington ein Militärputsch ab. 2008, als seine liberalen Anhänger die Freudentränen trockneten, übernahm Obama das gesamte Pentagon seines Vorgängers George W. Bush: seiner Kriege und Kriegsverbrechen. Während die Verfassung von einem aufziehenden Polizeistaat ersetzt wird, steigen querbeet in der US-Regierung jene auf, die Irak zerstörten, den Trümmerberg in Afghanistan anhäuften und Libyen zu einem Hobbesschen Alptraum reduzierten. Hinter ihrer mit Ordensbändern geschmückten Fassade nehmen sich heute mehr US-Soldaten das Leben als auf den Schlachtfeldern sterben. Voriges Jahr begingen 6 500 Kriegsveteranen Selbstmord.«
Und der Präsident? Mit Obama geht Pilger hart ins Gericht: Anstelle des bombastischen Bush sei ein Führer mit dem Gestus des »fehlbaren Reformers« getreten, gleichwohl Mord planend, ausführend und lächelnd. »Jeden Dienstag überwacht der ›humanitäre‹ Obama selbst ein weltweites Terrornetzwerk aus Drohnen«, während sich »der erste schwarze Präsident des Landes der Sklaverei weiter gut fühlt, so als bedeute seine bloße Existenz sozialen Fortschritt, ungeachtet seiner Blutspur. Diese Verneigung vor einem Symbol hat die US-amerikanische Antikriegsbewegung so gut wie zerstört - Obamas einzigartige Leistung.«
Gewiss wecken Pilgers Urteile Widerspruch. Ebenso wie Stones Thesen oder dessen schillernde Persönlichkeit. Dazu tragen Oliver Stones bewegtes Leben mit bekennendem Drogenkonsum bei, die Betonung seiner Sympathien (Hugo Chávez) und Antipathien (»Scharfmacherin« Hillary Clinton), aber auch manche Urteile in seiner unerzählten US-Geschichte, die streitbar, womöglich haltlos sind. John F. Kennedy etwa, dessen Ermordung sich in Kürze das 50. Mal jährt, ist für Stone einfach nur der liberale Leuchtturm, der »wegen seines Widerstands gegen die Kräfte sterben musste, die ihn in einen Krieg mit der Sowjetunion stürzen wollten«, sowie der Präsident, der »uns das Vietnam-Debakel erspart und den Kalten Krieg beendet hätte.« Das kann man so sehen, aber das muss nicht stimmen. Doch Stone - und Pilger - wünschen sich ein weniger starres Geschichtsbild und keins, wo eine Selbstgewissheit die andere ablöst. Das macht ihre Gegenangriffe so bedenkenswert.
n-tv, 30. September, 20.05 Uhr, zehn Teile, weitere Folgen: jeweils Montags, ebenfalls 20.05 Uhr
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