Reihenweise kühnste Brüche
Zum 200. Geburtstag von Giuseppe Verdi
Wer an Parma denkt und dabei auf Schinken oder Parmesankäse kommt, liegt nicht falsch, wenn es um Giuseppe Verdi geht. Er kam am 10. Oktober 1813 im Herzogtum Parma im Dorf Le Roncole zur Welt und wurde später auf demselben Ackerland der Po-Ebene ein ehrgeiziger Landwirt. Sommers lebte er auf seinem Gut Sant’Agata, die Winter verbrachte er in Genua oder Mailand. Monatelange Reisen zu seinen Uraufführungstheatern in Italien und ganz Europa füllten den Rest der Schaffensjahre.
Den Ehrgeiz hatte Giuseppe Verdi von seinem Vater geerbt. Als Wirt des Dorfgasthofes war Carlo Verdi wer in Le Roncole und er wollte, dass auch aus seinem Sohn etwas würde. Nur eines nicht, ein brotloser Musikant. Wie berichtet wird, war Giuseppe ein stilles Kind, eines, das stets abseits stand. Er gehörte zu denen, die schon als zehnjährige Jungs wissen, was sie können und vom Leben wollen und es dann auch tun. Der Widerstand des Familienpatriarchen gegen die Musik, die seinem Sohn alles bedeutete, begründete eine lebenslange Entfremdung zwischen Vater und Sohn; Mozart hatte mit Leopold wenigstens einen Fach-Kollegen »über sich«. In der Kleinstadt Busseto, wo der Knabe Verdi das Gymnasium besuchte, fand er den wahren Vater. Seinen musikalischen Wegbereiter und späteren Schwiegervater Antonio Barezzi liebte er ein Leben lang.
Seine Zurückhaltung vom Schulhof in Le Roncole behielt Verdi in der großen Welt bei. In Gesellschaften schwieg er und wurde abwechselnd für arrogant oder etwas seltsam gehalten. Bäder in der Menge, die ihm später reichlich zuteil wurden, floh er gern einmal. Indes, so ängstlich überkorrekt sich Verdi in der Gesellschaft auch gab, von Theaterkrächen weiß die Nachwelt ebenso wie von bäuerisch unnachgiebigen Honorarverhandlungen. Er war sogar drauf und dran, mit der Partitur von »Luisa Miller« unterm Arm auf ein französisches Kriegsschiff zu fliehen, um die Oper nicht für weniger als das ausgemachte fette Honorar hergeben zu müssen. Das Theater in Parma war in finanzielle Schwierigkeiten geraten.
1839 kam mit »Oberto« die erste von Verdis 26 Opern heraus. Gleich hatte der junge Musiker nach den Sternen gegriffen, indem er das Werk dem gefürchteten Bartolomeo Merelli anvertraute, dem Impresario der Scala. Dort wurde 1893 auch das letzte Werk des 80-jährigen, mit allem Opernruhm der Welt bedeckten Meisters uraufgeführt, der »Falstaff«.
Verdi lebte danach noch acht Jahre, bevor er am 27. Januar 1901 in Mailand starb. Er hatte Reichtum erworben, ein Krankenhaus gegründet, das bis 1957 in Betrieb war und ein Altersheim für bedürftige Künstler. Die »Casa Verdi« in Mailand gibt es heute noch.
Oberto, der unglückliche Graf von Bonifacio, hatte für Verdi außer Verträgen für weitere Opern noch zwei Langzeit-Glücksumstände im Gefolge. Er durfte mit der Mailänder Starsopranistin Giuseppina Strepponi arbeiten, und das Verlagshaus Ricordi begann, sich für ihn zu interessieren. Giuseppina Strepponi wurde nach längerem Hin und Her und gegenseitigem Umkreisen später seine zweite Lebensgefährtin und Ehefrau.
Nach einer mit der Dauerlektüre billigster Schmöker dahingebrachten Trauerzeit um den frühen Tod von Verdis erster Frau Margherita Barezzi und der beiden gemeinsamen Kinder begann für Verdi der Ruhm: »Nabucco«. Überall im zerrissenen Italien gärte politische Unruhe. Der grandios-patriotische Ton des »Nabucco« traf den Nerv der Zeit. Verdis in einigen Details schon hier hörbarer neuartiger Umgang mit dem Orchester, sein im Zeitalter des langausschwingenden Belcanto atemberaubendes dramatisches Tempo, vor allem seine Idee, den ganzen Chor als kollektives Individuum zu behandeln, begeisterte die Musiker schon in der ersten Probe. Den Zustand des Mailänder Publikums in der Uraufführungsnacht kann sich nur vorstellen, wer den Rausch einer gewonnenen Fußballmeisterschaft kennt. Dem Weltherrschafts-Dreigestirn der italienischen Oper, Rossini, Donizetti, Bellini, gesellte sich Verdi im Handstreich hinzu. Er wurde zur Weltberühmtheit. Sein Name und seine Person blieben vom »Nabucco« an mit dem Kampf um die politische und moralische Selbstbestimmung Italiens verbunden.
Danach begann, was von Verdi selbst und allen seinen Biographen »Galeerenjahre« genannt wird: ungefähr ein Jahrzehnt, in dem Oper auf Oper folgte. Schon 1849, mittendrin, als 36-Jähriger hatte sich Verdi ein Landgut und einen Stadtpalast erschuftet. Das ging an den Vater, von wegen Hungerleider. Im selben Jahr träumte ein ebenfalls 1813 geborener Komponist mittellos und als politischer Flüchtling vom »Kunstwerk der Zukunft«. Was Wagner später schuf, war radikal; Verdi veränderte die italienische Oper von Werk zu Werk ein wenig mehr. Mit einer »Riesenharfe« als Streichorchester gegen Bläser, die nach italienischer Banda klingen, begann er. In seiner mittleren Schaffensperiode bestimmen subtilste geteilte Streicher die Farbe von »La Traviata«, eine geniale Mischung von Chor-Vokalisen und düsterem Orchesterklang spiegelt als Gewittersturm die Seele der Protagonisten im letzten Akt des »Rigoletto«.
Dazwischen eine künstlerische Häutung, die Selbstfindung mit Shakespeare: »Macbeth«. Reihenweise kühnste Traditionsbrüche mit der italienischen Opernindustrie, kein strahlender Tenor-Held, keine sich in Lieblichkeit verströmende Sopranistin, dafür ein stummer König, der den 1. Akt nicht überlebt, ein Mörderchor der in albernem Staccato durch das Unterholz hüpft und am Anfang nur Frauenstimmen, Hexen. An den Sänger des Titelhelden richtete Verdi die Forderung, Text und Darstellung immer wieder zu studieren, die Musik käme dann von selbst. Welch ein Ansinnen an einen stimmstolzen Bariton, aber der Sänger Felice Varesi war intelligent genug, Maestro Verdi zu verstehen.
Auch von der Lady Macbeth wünschte er eine »raue, erstickte, hohle Stimme« zu hören. Gesang und Darstellung für die Wahrhaftigkeit der Szene von den Manieren des Belcanto-Stils abzuheben, das mussten die Sänger wagen. Verdi selbst arbeitete an der Auflösung der Form. Wenn Macbeth zum ersten Mal einen Dolch in die Hand nimmt, wenn ihm Nacht und tote Natur an die Seele greifen, verfällt er in ein dumpfes Parlando, das übliche Kavatine-Kabaletta-Schema taugt hier nicht. Dass sich auch das »Macbeth«-Orchester Lichtjahre vom Hum-ta-ta-Taktgeber oder vom stimmverdoppelnden Verstärker für die Sängerstimmen entfernt hat, zeigt die »Gran Scena del Sonnambulismo«. Klopfende und stolpernde Herzschläge, Seufzermotive, in den Abgrund gleitende Bassfiguren sind die komponierte Leidenssprache des Körpers der in den Wahnsinn entglittenen Lady.
Schon früh hatte Verdi den Begriff der »Tinta«, der »Farbe«, definiert. Für jedes Werk müsse sie charakteristisch und wiedererkennbar sein. Dabei ist es gleichgültig, ob die Tinta von einem besonderen Motiv, einer wiederkehrenden Instrumentenkombination im Orchester, einem speziellen harmonischen Fortschreiten, einer rhythmischen Formel oder von einem Personen-Motiv bestimmt wird. Verdis Mittel werden von Werk zu Werk raffinierter, trotzdem erkennt man die spezielle Farbe seiner Opern immer besser. Nur wenige Takte lassen den Hörer »Traviata«, »Otello« oder »Aida« sagen. Im »Macbeth« klingen unterschwellig die Hexentöne.
Noch in diesem Werk gibt es einen Freiheitschor, »Patria oppressa«, »unterdrücktes Vaterland«, aber sein Ton ist klagend, ganz anders als der pathetisch hochgemute der »Risorgimento«-Opern. Mehr und mehr holt Verdi das Individuum ins Zentrum der Opernhandlungen. Helden findet er dabei nicht mehr, vielleicht noch einen, Marquis Posa aus »Don Carlo«. Vielmehr fragt Verdi, was denn die vom Volk ersehnte Freiheit für den Einzelnen ausmacht. Die Suche nach der persönlichen Souveränität wird sein Lebensthema. Es sind immer vielfältigere Zwänge, denen seine Figuren ausgesetzt sind und denen sie vielfach unterliegen. Opern mit seltsamen sozialen Leerstellen entstehen. Im »Rigoletto« gibt es eine Autorität, an die niemand mehr glaubt, sonst nichts. Auch Violetta hat kein Netz, das sie auffängt. Der König im »Maskenball« sieht seiner Ermordung fatalistisch entgegen, Prinz Carlos versagt in der Liebe und in der Politik, Aida und Radames fliehen in einen langsamen Tod. Das Volk endet in Verdis Schaffen als manipulierte Jubelmasse unter dem Triumphgeschmetter aufgepflanzter Trompeten.
Stets suchte Verdi nach »Stoffen, die neu sind, groß, schön, verschiedenartig und gewagt bis zum äußersten Punkt«. Nach diesen Kriterien wählte er seine Sujets, trotzdem kann man nicht umhin, die immer aussichtsloseren Konstellationen, die Schlüsse bar jeder Erlösungshoffnung auch als Reflexion der politischen Entwicklung im letztlich von oben geeinten Italien zu sehen. Auf Liberalismus und Demokratie haben die Patrioten vergebens gehofft.
»Tutto nel mondo è burla« ist der Schlusspunkt. Auch eine Hoffnungslosigkeit, aber sie schüttelt den Kopf und lächelt über die Narrheiten der Welt, »tutti gabbati«, alle sind geprellt. Verdis großartig kunstvolles Schlusswerk wendet sich um, schaut selbstironisch auf die Flut der Tragödien - und flieht. Fuge. Einladung zum Nachtmahl mit Falstaff.
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