»Es gibt genug Nahrung, um alle Menschen zu ernähren«

Roman Herre über die jüngsten Zahlen zu Unterernährung und globalem Hunger, über unzulängliche Maßnahmen der Politik und Alternativen

  • Lesedauer: 3 Min.
Roman Herre ist Referent für Landpolitik und Welternährung der Nichtregierungsorganisation FIAN (FoodFirst Informations- und Aktions-Netzwerk). Diese setzt sich dafür ein, dass alle Menschen frei von Hunger leben und sich selbst ernähren können - und kämpft für das Recht auf angemessene Ernährung auf Basis internationaler Menschenrechtsabkommen. Mit ihm sprach Guido Speckmann.

nd: Wie beurteilen Sie den neuen Welthungerindex?
Herre: Was man ihm zugute halten muss, ist, dass er mehrere Variablen berücksichtigt - nicht nur die kalorienbasierte Unterernährung, sondern auch die Kindersterblichkeit. Auf der anderen Seite bezieht sich der Welthungerindex auf Basis der Millenium- Entwicklungsziele auf den Anteil der hungernden Bevölkerung - nicht auf die absolute Zahl. Das bedeutet: Bei einem Bevölkerungswachstum gibt es automatisch einen Rückgang des Anteils. FIAN bezieht sich daher auf die absoluten Zahlen.

Die UN-Ernährungsorganisation FAO meldete vor kurzem, dass die Zahl der Hungernden auf 842 Millionen gesunken ist. Sind Sie überrascht?
Ein bisschen. Die Abnahme ist natürlich erst einmal erfreulich. Trotzdem sind 842 Millionen Hungernde immer noch ein Skandal. Denn es gibt genug Nahrung weltweit, um alle Menschen zu ernähren.

Wie realistisch sind die Schätzungen der FAO?
Die FAO-Dokumente sprechen in Fußnoten und technischen Mitteilungen selbst von sehr konservativen Schätzungen. Somit gibt es eine Diskrepanz zu Schlagzeilen der FAO wie: »Global Hunger Down«. Die Bestimmung des Kalorienbedarfs ist bei der Ermittlung der Zahl der Hungernden zentral. Die FAO-Zahlen gehen von einem Kalorienbedarf bei bewegungsarmem Lebensstil aus. Dabei wissen wir, dass 80 Prozent der Hungernden im ländlichen Raum leben und in der Landwirtschaft tätig sind. Sie sitzen also nicht den ganzen Tag im Büro. Daher ist die angenommene Mindestkalorienzahl extrem niedrig. Es gibt Kalkulationen der FAO selbst, in denen ein moderater Lebensstil zugrunde gelegt wird. Danach würden 1,3 Milliarden Menschen hungern.

Die Hungeraufstände von 2008/09 etwa in Afrika ließen die Politik aufschrecken. Was ist seitdem passiert?
Positiv ist, dass Nahrungsmittelreserven in verschiedenen Ländern aufgestockt wurden. Das verhindert, dass bei geringeren Importen die Preise in die Höhe schnellen. Andererseits hat sich an der Politik, die zu den hohen Lebensmittelpreisen und Hungeraufständen beigetragen hat, nichts geändert. Im Gegenteil: Sie wurden noch ausgebaut. Stichwort Agrartreibstoffe und Handelspolitiken, die die agrarindustrielle Exportlandwirtschaft befördern. Oder Stichwort Privatisierungspolitiken im Bereich Land und Saatgut. Die Ursachen der Preisexplosionen sind also teilweise gar nicht angegangen worden. Auch bei der Eindämmung der Spekulation mit Nahrungsmitteln gibt es keine echten Fortschritte.

Wie können Alternativen zur Agroindustrie aussehen?
Zunächst einmal gilt festzuhalten: Die industrielle Landwirtschaft hat es in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft, die Hungernden zu ernähren. Zu kurz kommt beim Thema Produktivitätssteigerung auch dies: Wenn beispielsweise der industrielle Sojaanbau in Paraguay doppelt soviel exportiert, haben die Hungernden vor Ort nichts davon. Im Gegenteil, das Ackerland ist von einer Exportlandwirtschaft in Beschlag genommen, die nur sehr wenigen Menschen ökonomischen Nutzen bringt. Daher setzen die alternativen Ansätze darauf, dass die Nahrungsmittelproduktion in erster Linie lokal und für die Menschen vor Ort erfolgt.

Wären agrarökologische Anbaumethoden eine Alternative?
Durchaus. Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass eine arbeitsintensive kleinflächige ökologische Landwirtschaft eine sehr hohe Produktivität erreichen kann. 100 bis 200 Prozent mehr an Erträgen sind möglich. Natürlich beinhalten agrarökologische Ansätze auch eine Modernisierung der Anbaumethoden. Aber eben eine wissensintensive Modernisierung. Lokales Wissen sollte weiterentwickelt werden. Auch die Forschung müsste verstärkt lokal, von den Bauern selbst durchgeführt werden.

Wie beurteilen Sie die Korrekturbemühungen der europäischen Biosprit-Politik?
Der Plan, die Beimischungsquote von nahrungsmittelbasierten Agrarrohstoffen auf fünf Prozent zu senken, ist völlig unzureichend. Wir sind für eine komplette Abschaffung dieser Quote, weil es keine Mechanismen gibt, die etwa Verletzungen des Rechts auf Nahrung angemessen berücksichtigen. Zudem sehen wir mit Sorge, dass selbst das im Raum stehende Fünf-Prozent-Ziel weiter aufgeweicht werden soll.

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