Einsteins dicker Balken

War die Relativitätstheorie die Schöpfung eines anatomisch besonders geformten Gehirns? Wer dies annimmt, unterschätzt in der Regel die Einflüsse der Umwelt auf ein so komplexes Phänomen wie die Intelligenz

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Seit langem schon suchen Wissenschaftler nach den hirnanatomischen Wurzeln von Genialität. Kaum ein anderes Objekt scheint dafür besser geeignet als das Gehirn von Albert Einstein, der, wie es häufig heißt, sein legendenumwobenes Denkorgan der Nachwelt zu Forschungszwecken überlassen habe. Ob das stimmt, ist bis heute umstritten. Fest steht nur: Nachdem der Schöpfer der Relativitätstheorie am 18. April 1955 in einem Krankenhaus in Princeton (USA) an inneren Blutungen gestorben war, entnahm der Pathologe Thomas Harvey am nächsten Morgen Einsteins Gehirn. Er wog und fotografierte es, zerschnitt es in 240 würfelförmige Blöcke und ließ davon 2000 mikroskopische Schnitte anfertigen. Danach verschickte er einzelne Schnitte an bekannte Hirnforscher und bat diese, das Gewebematerial auf anatomische Besonderheiten zu untersuchen.

Doch der Erfolg ließ auf sich warten. Erst 1985 gab die US-Neurologin Marian Diamond bekannt, dass sie in Einsteins Gehirn mehr Stützzellen (Gliazellen) pro Neuron gefunden habe als in »normalen« Gehirnen. Da man die Gliazellen seinerzeit aber nur für Anhängsel von Nervenzellen hielt, wagte kaum jemand, Einsteins Genie einzig darauf zurückzuführen. Ein weiterer Fund gelang 1999 der kanadischen Neurologin Sandra Witelson. Sie stellte fest, dass bei Einstein die unteren Parietallappen der Großhirnrinde besonders ausgeprägt waren, also jene Bereiche des Gehirns, die wichtig sind für das mathematische Denken, das räumliche Erkennen und die Vorstellung von Bewegungen. Zwar machte Einstein bei der Begründung der Relativitätstheorie von diesen Fähigkeiten reichlich Gebrauch. Dennoch liege Witelson falsch, wenn sie von einer »einzigartigen Morphologie« in Einsteins Gehirn ausgehe, sagt der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner. Denn auch bei anderen Menschen habe man eine Verbreiterung der unteren Parietallappen festgestellt. Hagner führt zwei Beispiele an: den polnischen Marschall Józef Piłsudski, von dem besondere mathematische Fähigkeiten nicht überliefert sind, und einen unauffälligen höheren Ministerialbeamten, der neun Sprachen fließend beherrschte. Dagegen hatte Einstein bis zuletzt Mühe, halbwegs verständlich Englisch zu sprechen.

Doch nun gibt es eine neue Spur. Wie im Fachblatt »Brain« (doi: 10.1093/brain/awt252) nachzulesen ist, hat ein US-chinesisches Forscherteam um Dean Falk von der Florida State University die 1955 gemachten Fotografien von Einsteins Gehirn genauer analysiert. Die Fotos wurden erst kürzlich wieder entdeckt und liegen jetzt im National Museum oft Health and Medicine der USA. Gut zu erkennen ist darauf der aus rund 250 Millionen Nervenfasern bestehende Balken zwischen beiden Hirnhälften, das sogenannte Corpus callosum, das die eher analytisch und sprachlich arbeitende linke mit der eher bildhaft und emotional arbeitenden rechten Gehirnhälfte verbindet. Als die Forscher das Corpus callosum in Einsteins Hirn mit dem von 67 anderen Männern verglichen, stellten sie fest: Bei keinem war der Balken zwischen beiden Hirnhälften so stark ausgeprägt wie bei Einstein.

Ob diese anatomische Besonderheit, die gemeinhin mit viel kreativer Intelligenz assoziiert wird, für Einsteins Denken maßgebend war, weiß natürlich niemand. Überhaupt lässt sich ein so komplexes Phänomen wie die Intelligenz nur als übergreifende Leistung des gesamten Gehirns deuten, dessen Entwicklung wiederum wesentlich von der Umwelt, namentlich der Bildung, sowie Zufällen der individuellen Biographie abhängt.

Einstein selbst hielt es für eine der glücklichsten Entscheidungen seines Lebens, dass er mit 15 Jahren dem geistigen Drill am Münchner Luitpold-Gymnasium entfloh und sich entschloss, in die liberale Kantonsschule im schweizerischen Aarau einzutreten. Denn hier boten ihm einige Lehrer die damals vielleicht wirklich einzigartige Möglichkeit, seinen höchst eigenwilligen, sprich bildhaften und unabstrakten Denkstil zu pflegen und zu entfalten. Jenen Denkstil also, der 1905 in der Begründung der Relativitätstheorie gipfelte.

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