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  • Politik
  • Kultautor Philippe Djian ist älter geworden

Heiß, aber Herbst

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Kritiker sind immer dann begeistert, wenn «Djian wieder einen Djian geschrieben hat». Das freilich ist nicht so einfach. Denn der Djian, den Djian schreiben soll, ist eindeutig der junge Djian, der mit seinen Erstlingsromanen «Betty Blue», «Erogene Zone» und «Ver raten und verkauft» in die Reihe der Kultautoren aufstieg. Seine Helden: junge Leute, rastlos, rebellisch, maßlos, fiebrig. Seine Sprache: 200 km/h, sinnlich, erotisch, zärtlich, brutal - ein bisschen Rimbaud, ein bisschen H. Miller.

Doch auch ein Djian wird älter. Nun, da er 50 geworden ist, hat er mit seinem Roman «Heißer Herbst» erneut eine Trilogie beendet. «Erotisch wie sein Frühwerk», heißt es. Wieder ein Djian? Ich weiß nicht. Wie schon «Mörder» und «Kriminelle» er zählt «Heißer Herbst» von Luc Paradis. Paradis ist Schriftsteller. Die Midlife crisis liegt hinter ihm, an seinen letzten großen Erfolg kann er sich selbst kaum noch erinnern. Eileen, seine Frau, hat ihn verlassen, schlimmer: Sie hat ihn wegen eines anderen verlassen. Seit drei Jahren lebt er allein, zwischen Liebe und rasender Eifer sucht, Selbsterkenntnis und -mitleid schwankend (was das Schwanken anbetrifft, sollte man die Drinks mitzählen.) Da schneit Ex Schwiegermutter Josianne herein. Gerade verwitwet und abgebrannt, beschließt sie, sich bei ihm einzunisten - der Stoff, aus dem Skandale sind. Ein abgründiges Spiel beginnt, das noch einmal in Leidenschaft umschlägt...

Djians Helden sind längst nicht mehr on the road. Sie wohnen in schönen Häusern und gehen ihren Geschäften nach, mehr oder weniger skrupellos - ewiger Kreislauf, alte Erkenntnis, die Jugend immer ignoriert: Älter werden heißt, Unschuld verlieren. Die Helden, sie haben sich ar rangiert. Sie leben in Paarbeziehungen, die nach außen hin stabil sind, aber innerlich zerbröckeln. Die Leidenschaft ist schal geworden, statt Erotik gibt es nur Sex, und dieser Sex, er prickelt nicht. Was sie einst suchten, fanden sie nicht, das Gefühl erschreckt: Da war nichts. Gefühl, ein Rest verzehrender Gier, immerhin ein Rest von Leben. Oh, Djian schreibt noch Gänsehautsätze wie jenen einen von Josiannes Haar, dessen dunkles Rot so leuchtet, «das einem die Pulsadern aufschneidet». Das atmet, bebt, pulsiert und zittert! Und doch, seine Sätze fliegen nicht mehr. Sie jagen nicht mehr von Komma zu Komma, nicht schwerelos in Himmelsnähe, immer ist da schnell ein Punkt, der sie hindert abzuheben.

Harmonie von Inhalt und Form. Alles ist da, was ein gutes Buch braucht, prima, denkt man, alles bestens. Wieder ein Djian? Ich weiß nicht. Er spielt ein gefährliches Spiel. Gnadenlos ehrlich führt er uns vor- So ist das, Leute, der Schmelz ist weg. Kann man den neuen Djian lieben, ohne den alten (in diesem Fall: jungen) Djian zu vergessen? Er scheint sich selbst nicht sicher zu sein. Vielleicht deshalb lässt er Luc Paradis am Ende wieder aufbrechen.

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