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Gibt es eine feministische Algebra?

Gerhart Neuner über Allgemeinbildung und die Schwierigkeiten der Bildungsaneignung Von Jürgen Amendt

  • Lesedauer: 5 Min.

Hier äußert sich ein Verteidiger des Prinzips der einheitlichen Bildungsschule, die sich gegen das gegliederte bzw. zergliederte Schulsystem durchaus behaupten kann: Die DDR-Einheitsschule habe »nicht zu Nivellierungen und Niveausenkungen geführt, wie Ver teidiger des gegliederten Schulsystems immer wieder ins Feld führen.« Ähnlich sieht der Autor die Gesamtschule im Westen; diese habe gerade auf dem flachen Land mehr Kindern als früher den Zugang zu höherer Bildung ermöglicht, sei allerdings leider zum Hauptschuler satz verkommen. Der Verfasser ist kein Unbekannter und ND-Lesern wohl bekannt: Gerhart Neuner, Präsident der Akademie der pädagogischen Wissenschaften in der DDR bis 1989 »Ressource Allgemeinbildung« heißt das Buch, das im renommierten Deutschen Studien Verlag erschienen ist. Der Pädagogikwissenschaftler bekennt sich darin durchaus zum Leistungsgedanken und zu einem Kerncurriculum aus Deutsch, Mathematik und Naturwissenschaften, erweitert um Geistes- und Sozialwissenschaft sowie Grundwissen in Arbeits- und Wirtschaftslehre.

Des Untertitels »Neue Aktualität eines alten Themas« hätte es gar nicht bedurft.

Die Frage nach dem allgemein verbindlichen Bildungskanon ist eine modische. Hat Gerhart Neuner deshalb ein modisches Buch geschrieben? Nein, denn glücklicherweise verweigert er sich der Zeitgeist-Klage darüber, dass die junge Generation immer dümmer werde und diesem misslichen Umstand nur durch Schillers »Glocke« oder Shakespeares »Hamlet« beigekommen werden könne, wie dies der Liebling der Talkshows und des Boulevardfeuilletons Dietrich Schwanitz tut (»Bildung - Alles was man wissen muss«, Eichborn Verlag).

Nein, Gerhart Neuner schlägt leisere und nachdenklichere Töne an. Er vergisst nicht, dass es die bildungspolitischen Reformen der »68er« waren, die das starre westdeutsche Schulsystem aufbrachen und Bildungschancen auch für Angehörige der so genannten bildungsfernen Schichten eröffneten. »Es wäre verhängnisvoll, Fortschritte der pädagogischen Bewegung seit Beginn dieses Jahrhunderts und von Bildungsreformen in der Bundesrepublik der siebziger Jahre leichtfertig einem oft gedankenlos dem aktuellen Zeitgeist folgenden Hin und Her oder Vor und Zurück zu opfern.« Der Ver mittlungspädagogik, die auf Zensuren, Punktekonten, Prüfungen, Berufskarrieren etc. als »vorrangiges Motiv« im Prozess der Aneignung von Bildung beharrt, erteilt er eine Absage.

Altlinke oder 68er-Pädagogen der alten Schule sollen dennoch gewarnt sein: Ger hart Neuner legt bei aller Wertschätzung ihrer Arbeit den Finger in die offenen Wunden, die Bilder und Maschinenstür mereien in den letzten drei Jahrzehnten im Bildungsbereich in Deutschland geschlagen haben. Neuner wehrt sich gegen die Tendenz, sich »von jedem Gedanken an Kulturtradierung mittels Bildung und erst recht Allgemeinbildung« zu verabschieden. Er nennt es »problematisch«, den Schülern die zweifelhafte - auch scheinbare - Freiheit zuzugestehen, quasi jegliche menschliche Erkenntnis »immer wieder selbst zu erfinden«. Die Folgen, so der Autor, seien fatal, weil den Schülern letztlich kein »gemeinsames Bezugssystem« mehr an die Hand gegeben werde, auf das sie sich stützen, an dem sie sich aber auch reiben können.

Nicht immer hat der Verlust von Gemeinsamem solche Possen zur Folge, wie sie Neuner in seinem Buch erzählt. Können indianische Schöpfungsmythen über die Herkunft der amerikanischen Ureinwohner den gleichen Rang von Wahrheit beanspruchen wie archäologisch-wissenschaftliche Erkenntnisse? Oder- Gibt es eine feministische Algebra? Über beide Fragen wurde mehr oder weniger ernsthaft in den USA nachgedacht. Das Thema ist ernst. Wenn wir nicht über gemeinsame Bezugssysteme als Teil der Allgemeinbildung verfügen, so Gerhart Neuner, werde die Verständigung unter den Mitgliedern einer Sozietät zusätzlich ver kompliziert, der gesellschaftliche Konsens drohe zu zerbrechen, vertiefte soziale Unterschiede seien die Folge.

Bildung bedeute Arbeit, meint der Autor. Durch die Relativierung von Leistung, Leistungsstandards und Leistungsunter schieden in der Bundesrepublik seit den 70er Jahren sei fast in Vergessenheit geraten, dass Leistung ein progressives Element zuerst der bürgerlichen Tradition, dann auch der Arbeiterbewegung gewesen sei. Nicht mehr Herkunft oder Stand sollte über die soziale Position entscheiden, sondern die individuelle Leistung. Lernen soll Spaß machen? Aber ja doch, aber es müsse auch mit Anstrengung verbunden sein, beharrt der Pädagoge Neuner. Beständiges Mühen um Kulturtradierung oder Selbstverwirklichung - der Bildungspolitiker Neuner hält beides für sinnvoll und möglich.

Der Rezensent des »Tagesspiegel« hielt Neuner vor, er tendiere dazu, die Leistungen der DDR-Schule, »für die er ja mitverantwortlich war«, zu positiv zu bewerten. Ein unberechtigter Vorwurf. Neuner übt durchaus Selbstkritik. Zwar sei im Bildungskanon der DDR-Schule mit Recht der Akzent auf Naturwissenschaften und Polytechnik gelegt worden, »der sprachlich-philologische sowie kulturgeschichtlich-anthropologische Bereich ist demgegenüber in der DDR-Schule unterrepräsentiert geblieben«. Andererseits wendet sich der emeritierte Erziehungswissenschaftler gegen den bildungspolitischen Kahlschlag in den ostdeutschen Ländern nach der deutsch-deutschen Vereinigung, gegen die unreflektierte Adaption westdeutscher Schulmodelle und eine im Bildungskanon entstandene Schieflage, die naturwissenschaftlich geprägte Denkweisen als materialistisch denunziert.

Hier aber wagt er sich auf stark ideologieverdächtiges Terrain - und tritt prompt auf eine Mine. Möglichkeiten und Risiken der modernen Technik sollten im Unter rieht sachlich behandelt werden. Weil es beispielsweise zum Thema Kernfusion oder Radioaktivität in Politik und Öffentlichkeit kontroverse Debatten gebe, müsse sich der Schulunterricht auf die Ausgewogenheit der Argumente stützen. »Weder Verharmlosung noch Panikmache« for dert Neuner von den Lehrern. Lebt hier nicht das Trugbild von der ideologiefreien Technik wieder auf, die nur sachgerecht angewandt werden müsse? Von den Pädagogen verlangt Neuner schier Unmögliches: Sie sollen sich gegen die Sensationshascherei der Medien immunisieren, gegen Dämonisierungen den wissenschaftlichen Sachverstand setzen. Der Lehrer als »Black Box«, die Informationen beliebig aufnimmt und ungefiltert wieder ausspuckt - das ist nicht nur ein Trugbild, das ist stark ideologieträchtig.

Gerhart Neuner- Ressource Allgemeinbildung? Neue Aktualität eines alten Themas. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 1999 212 Seiten. 44 DM

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