Vom Ich zum Virus
Warum Münchens Veto gegen Olympische Spiele und die Tränen des Uli Hoeneß so viel miteinander zu tun haben
Aller Umschlag ins Neue bedarf einer vorhergehenden Maßlosigkeit. Dies beweist jeder Impuls für Diät, für Revolution, ja für jedwede Bewegung oder jedwedes Innehalten. Der frische Gedanke reißt endlich die Fenster auf, weil die stickige Leere eines obwaltenden Geistes alle Erträglichkeit überschritt. Aber undeutlich träten neue Sterne ins Haus, sagt Brecht, und er verweist damit auf die anfängliche Unschärfe sich wandelnder Verhältnisse.
Zum Beispiel die repräsentative Demokratie. Am Ende? Ja. Aber vielleicht offenbart sich just da, wo nurmehr ihr Versagen beklagt wird, auch eine unabweisbare Leistungskraft, also: Ein Modell hat ausgedient - weil es erfolgreich war. Sein Prinzip sickerte von oben nach unten. Denn längst wird doch diese Republik von einer Unmenge regionaler, kommunaler, vereinsgebundener, partikulärer Strukturen durchzogen, die man als eigentliche Regierungsgewalt bezeichnen kann - eine Ungewalt, die im Geringen aufopferungsvoll, unermüdlich, sisyphusgestempelt genau das tut, was auf höherer Ebene sich ereignet: Sachfragenphilosophie, Faktencheck, utopiefreier Schritt-für-Schritt-Rhythmus. Nur ist dieses mühevolle Unten absolut bar jener tölpelhaften Phraseologie, mit der im Oben nach wie vor jedes soziale, kulturelle Problemfeld umwattet wird.
Und genau dies besiegelt die Glaubwürdigkeit einer Demokratie: rechtschaffene Arbeit auf den weiten Feldern der Provinzen - indes Rom, ob es nun Kanzleramt, Parteizentrale oder Limburg heißt, seine Unerträglichkeiten potenziert. »Wir sind zuversichtlich von Berufs wegen«, sagte Sigmar Gabriel soeben am Rande der Koalitionsverhandlungen, und er grinst sich - mit der Kanzlerin bildet er schon zwei gemeinsame Mundwinkel - auf diese Art darüber hinweg, dass alle Wahrheit der Politik in der tiefen Sorgenfalte liegt.
Das Wort »Zuversicht« auf dafür ungeeigneten Zungen aber macht Menschen »in den Vollzugsstätten des Demokratischen« (Niklas Luhmann) nicht bloß verdrossen, es erhebt sie auch. Denn Gleichgültigkeit gegenüber den noch gültigen politischen Prozeduren der Repräsentanz ist der erste Beleg dafür, einen Zipfel Zukunft erwischt zu haben. Die eine Zukunft ohne Prunk, ohne Protz, ohne Monstranz sein wird. Und Prunk und Protz beginnen bei der grassierenden Uneinsichtigkeit bestimmter Etablierter in den eigenen verlorenen, weil am Ethosmangel krankenden Posten. Aber auf Dauer entkommen sie nicht dem bitteren Ruf ihrer Konstruktionstalente, denn, so Kabarettist Dieter Nuhr: »Vergessen wir nicht, die Arche Noah wurde von Laien gebaut, die Titanic aber - von Profis.«
Oder zum Beispiel der Sport: München und Umgebung lehnen Olympische Spiele ab. Auch da: Ein Maß ist voll - das Prinzip Großereignis verlor seine Attraktion in parallel steigendem Misstrauen zu den verderbten Organisationsformen, denen es sich inzwischen verdankt. Dass in der DDR Sportler »Diplomaten im Trainingsanzug« genannt wurden, war nicht die Wahrheit einer angestrengt um Anerkennung ringenden Provinz, sondern eine Wahrheit des Jahrhunderts und all seiner Mühen um nationale Souveränitäten. Das riss mit, das erzeugte bei Millionen Menschen eine Identifikationslust, die derart aufbauend war, dass man den jeweiligen Machthabern in Gelassenheit gestattete, die Begeisterung als pures ideologisches Bekenntnis misszuverstehen. Sport als Suche nach der arkadischen, der politisch unbehelligten Lebensform hat es in reiner Form nie gegeben. Aber vielfach gelang es just bei Großereignissen, das Erlebnis trotzdem abzuspalten von dessen ideologischer Unterfütterung. Man fieberte national, freute sich städtisch, applaudierte regional, verfolgte gespannt die »Unseren« - und war mit analytisch kontrollierendem Wissen über die allzeit schmierigen Hintergründe noch nicht in dem Maße versorgt (und bedrängt!), wie das heute der Fall ist.
Inzwischen gibt es keinen ungetrübten Blick mehr auf die Dinge. Jede Leistung provoziert Fragen nach dem verbotenen Treibmittel. Siege verloren ihren guten Ruf, weil sie ohne die Starrköpfigkeit der aufgerüsteten Vormärsche kaum mehr zu denken sind - Vormärsche der Finanzen, des Dopings, der Lobbyisten und jener einen Hand, welche die andere wäscht, bis sich Schmutz in Gold verwandelt. Der Fan? Ein zunehmend vom Markt verletzter Gläubiger.
Weil die Rede von Rom ging - es sollte noch lange, lange Zeit bis zum Verbot der Gladiatorenkämpfe unter Kaiser Honorius vergehen, da schrieb Seneca, im 1. Jahrhundert nach Christus: »Was diesem blutigen Feste Nahrung gibt, ist unsere Schrankenlosigkeit, die unter wachen Augen der Götter an ihre Grenzen kommen wird.« Schrankenlosigkeit. Schier schrankenlos scheint die Hoffnung des Uli Hoeneß zu sein, Bayerns Justiz verhalte sich in seinem Falle lammtreu wie die Mitgliederschaft des Fußballclubs. Und da plötzlich, fast gleichzeitig zur Hoeneß-Heularie auf der Jahreshauptversammlung des FCB, ebenfalls in München!, dieser Einspruch gegen Olympia? Der französische Philosoph Roland Barthes nannte so etwas »das Prüfungsmodell der Gleichzeitigkeit, da sich ausbildet, was uns zu Ethikern erhebt: Unterscheidungsvermögen.«
Natürlich wird es weiter Olympische Spiele geben, weiter den Freudefuror am Leistungssport, weiter den Selbststeigerungskitzel, wie er von jedem Festival ausgeht, und das ausschweifend Bacchantische möge der Menschennatur nicht auszutreiben sein. Aber es gibt offenbar ein steigendes Bedürfnis nach Fragen zur Verhältnismäßigkeit unserer öffentlichen Rituale. Der Monumentalnerv ist getroffen.
Und gehen also von München nicht noch andere Erkundigungen aus? Die Brandenburger SPD-Sozialministerin Regine Hildebrandt erntete vor Jahren ein Grinsen bei ihren Genossen, als sie meinte: »Warum muss ich während eines Parteitages in einem Luxushotel wohnen? Warum nicht bei Mitgliedern unserer Partei aus der jeweiligen Region, da hätte man abends Gesprächsstoff und erführe ein wenig mehr vom Leben an der Basis.« Was ist mit der eingeschliffenen Latscherei auf rotem Teppich und vor Ehrenformationen? Muss nicht jegliche Parade als Beleidigung des Individuums gelten? Inszenierte Wirklichkeitsberührungen im politischen Geschäft - noch immer ein Zirkus, der wie jeder Popanz auf unsere Verführbarkeit durch Choreografie setzt. Davon lebt jedes soldatische Gelöbnis, jede Gala der Musi’. Wer Kleists Gedanken übers Marionettentheater liest, begegnet auch dem Handwerk modern gesteuerter Massenkultur - deren letzter (zerflatternder?) Ausläufer das Großfest Olympia ist?
Unser Innen sei mit Lieferwaren vollgestopft, schrieb der Philosoph Günter Anders. Je ganzheitlicher, vollständiger eine Macht, desto stummer dürfe ihr Kommando sein: Irgendwann nämlich tun wir ganz von selbst nur noch das, was uns angetan wird; irgendwann wird nur gedacht, was uns zugedacht ist; irgendwann wird nur noch benötigt, was uns aufgenötigt wird. Das Unmaß an falschen Angeboten werde uns mählich zum Gebot. Solche Gedanken konnten einem bei der handreichenden Art kommen, mit der die Heulattacke von Hoeneß bei der FCB-Versammlung beantwortet wurde. Mitleid wie unter Trance.
Alexander Kluge schrieb einmal, wir seien, mitten im Reißen der Zeiten, dennoch auf Vorsicht gepolt; unsere Gefühle seien letztlich klüger als unser Kopf. Demnach darf trotz aller Rück- und Niederwürfe, die das gesellschaftliche Veränderungstempo auf Schneckenmaß halten, doch auf jene Hoffnung gebaut werden, die in einer evolutionsgesicherten Gefühlsresistenz ruht: Es gibt nämlich Empfindungen und Reaktionen, auf die sich das Individuum, über lange Zeiten hinweg, verlassen kann - weil sie sein natürlich-störrisches Verhalten gegen jede lügnerische Zeit-Erregung unterschwellig stabil halten.
Münchens Lektion also: Es ist stets mehr Gegenwelt möglich als zunächst angenommen. Der Virus ist der Bote des Kommenden. Die Kraft des Keimes liegt in seiner unendlichen Geduld im großen Bogen der Zeit.
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