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Kuriose Korsaren
Richard Hughes über Kinder, Schuld und Sühne
Sind Kinder jenseits von Gut und Böse? Oder liegt gerade in Kindern das Böse so dicht unter der Oberfläche, dass es bei (un)günstigen Bedingungen ungefiltert zum Ausbruch kommt? Letztere Frage versuchte William Golding (1911-1993) in seinem 1954 erschienenen Roman »Herr der Fliegen« zu beantworten, in dem eine Horde Halbwüchsiger sich in kurzer Zeit auf einer einsamen Insel das Leben untereinander zur Hölle macht.
Richard Hughes (1900-1976), Engländer wie Golding, veröffentlichte ein Vierteljahrhundert zuvor (1929) seinen Roman »Orkan über Jamaika«, der von der eingangs gestellten Frage wie von einem roten Faden durchzogen wird. Einem Faden, an dem Perlen gleich Erlebnisse aufgereiht sind, die gemeinhin als Abenteuer bezeichnet werden. Ein Abenteuerroman also. Ein Seefahrerroman, der Anfang der 1860er Jahre spielt. Meerestiefen und Menschentiefen. Die sich oft als Abgründe herausstellen. Abgründe, die sich auch in der zehnjährigen Emily auftun, die, getrennt von Eltern und Heimat, gemeinsam mit ihren jüngeren Geschwistern in eine Erwachsenenwelt geworfen wird, der der Ruch des Bösen schlechthin anhaftet.
Durch abstruse Umstände eher in die Gemeinschaft als in die Gewalt von Piraten geraten, wird die Besatzung des Kaperschiffs für die Kinder, die von ihren Eltern von Jamaika in die englische Heimat geschickt wurden, zu einer Art Ersatzfamilie.
Der Unberechenbarkeit, die das Leben auf See ohnehin prägt, setzen die Kinder ihre eigene entgegen. Was zu absurden, absonderlichen, aber auch schrecklichen, grausamen Geschehnissen führt. Die erste und einzige Person, die auf dem Seeräuberschiff einen Menschen tötet, ist ausgerechnet Emily. Eine Schuld, deren Gewicht noch dadurch ins Unwägbare steigt, dass die Zehnjährige sich niemandem anvertraut. Denn die eine Frage, die schicksalhafte, ist ja, ob sie nicht trotz ihrer Schuld unschuldig ist.
Der Roman äußerer Abenteuer wird so zum philosophisch-psychologischen Drama innerer Verstrickungen und Verdrängungen, das Kinder und Erwachsene gleichermaßen in seinen unerbittlichen Sog zieht und weitere Opfer fordert - Todesopfer: Denn am Ende werden die kuriosen Korsaren hingerichtet für einen Mord, den sie nicht begangen haben, für den sie nicht einmal eine Erklärung besitzen.
Richard Hughes’ Roman verdankt einen Großteil seiner Wirkung der nüchtern-distanzierten Sprache des Erzählers, wobei die Übersetzung deren stilistische Brillanz ebenbürtig ins Deutsche transportiert.
Der wiederentdeckte Richard Hughes, der 1924 für die BBC das erste europäische Hörspiel schuf, wird oft mit Joseph Conrad (1857-1924) in Beziehung gesetzt. In der Tat kann man »Orkan über Jamaika« in seinem subtilen Durchweben des Abenteuerstoffes mit der Schuld-Schicksal-Sühne-Thematik als Pendant zu Conrads bekanntestem Werk sehen. Sucht dieser in den Tiefen Afrikas das menschliche »Herz der Finsternis« (1899), so verweist Hughes auf eine in wohl jedem Menschen verborgene Finsternis des Herzens.
Richard Hughes:
Orkan über Jamaika. Roman. A. d. Engl. v. Michael Walter. Dörlemann. 290 S., Leinen, 19,90 €
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