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Natur und Armut

Iwan Bunin öffnet uns die Welt des russischen Dorfes noch einmal neu

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Das russische Dorf! Ach, was kommt einem nicht bekannter vor als dieser Ort! Obwohl man nicht auf dem Land lebt und schon gar nicht in Russland, meint man zu wissen, wie es dort zugeht. Beziehungsweise zugegangen ist, denn dieses Dorf ist ja, wenn man anfängt, genauer darüber nachzudenken, schon über hundert Jahre alt. Und es existiert auch nur in der Literatur, bei Dostojewski oder Tolstoi etwa oder bei Tschechow.

Doch dann liest man Bunin, liest seine Erzählungen im Band »Gespräch in der Nacht« und denkt, wie wenig man in Wirklichkeit über dieses Dorf weiß, ja, wie wenig man darüber wissen kann. Man stellt fest, dass bei Bunins älteren Schriftstellerkollegen die arme Landbevölkerung eher in Nebenrollen auftaucht, selten individualisiert, meist als typisierte Figuren. Ausnahmen, wie Tschechows Erzählung »Die Steppe«, bestätigen da die Regel.

Bunins Bauern und Landarbeiter sind dagegen differenziert geschilderte Persönlichkeiten. Gleich »Hundertacht«, die erste Geschichte in »Gespräch in der Nacht«, macht allerdings das Problem deutlich, überhaupt etwas über diese Menschen zu erfahren.

Da geht der junge Lehrer Iwanizki noch einmal durch das Dorf, das er am nächsten Tag in Richtung Moskau verlassen wird. Er sieht die Schönheit der Natur und will noch einmal den hundertachtjährigen Greis Taganok besuchen. Er möchte, wie er Grigorij, dem Enkel Taganoks, sagt, »so schrecklich gerne seiner hundertachtjährigen Seele auf den Grund blicken, ihn dazu bringen, mir von alten Zeiten zu erzählen.« Aber, sagt der Lehrer weiter, »daraus wird einfach nie etwas! Entweder will er, warum auch immer, nicht mit mir reden, oder aber man muss die absurde, aber offenbar wahrscheinlichste Mutmaßung anstellen, dass hinter dieser Seele außer dem Allerprimitivsten einfach rein gar nichts steckt.«

Und doch entsteht dann, als Iwanizki Taganok trifft, vor dem inneren Auge des Lesers mit dem Wenigen, was der Hundertachtjährige dem Lehrer erzählt, das beeindruckende Drama eines von Gewalt und Elend geprägten Lebens.

Auch in der titelgebenden zweiten Erzählung, »Gespräch in der Nacht«, geht es um das Aufeinandertreffen der Welt des Landadels, aus dem Bunin ja selbst stammte, und der der Landarbeiter. Deren vom Leben geprägte Brutalität, die in ihrem Erzählen am Abend deutlich wird, zerstört die Faszination, die ein junger Gutsherr für diese Menschen hatte.

In den weiteren Erzählungen versucht Bunin dann, sich mit seinem allwissenden Erzähler in seine Protagonisten hineinzuversetzen und ihnen damit ein individuelles Gesicht und eine Geschichte zu geben.

Die große Kunst Iwan Bunins besteht darin, diese hoffnungslosen Dramen so zu erzählen, dass man sie nicht nach der ersten Episode frustriert beiseite legt. Es finden sich in seiner Schilderung der Welt des russischen Dorfes immer wieder Anknüpfungspunkte zum heutigen Leser, zu Problemen, die dieser trotz aller zeitlichen und gesellschaftlichen Unterschiede auch hat.

Daneben enthalten die Geschichten wunderbare Naturschilderungen, deren Quelle wohl die eigenen Erfahrungen Bunins in der Kindheit waren. Am Ende dann ist einerseits klar, dass man nie ganz das russische Dorf, ja überhaupt eine so andere Welt verstehen wird, dass man andererseits aber einem solchen Verständnis mit den Erzählungen Iwan Bunins ein großes Stück näher gekommen ist.

Iwan Bunin:
Gespräch in der Nacht. Erzählungen 1911. A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg. Hg. v. Thomas Grob. Dörlemann. 300 S., Leinen, 24,90 €

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