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Die persönliche Note

Peter Brandt erinnert sich an seinen Vater Willy Brandt

  • Heinz Niemann
  • Lesedauer: 4 Min.

Nun hat der kommende 100. Geburtstag es doch mit sich gebracht, dass sich Peter Brandt endlich überzeugen ließ, als der älteste Sohn - und im Unterschied zu seinen Brüdern früh politisch engagiert und zudem als ausgewiesener Zeithistoriker besonders prädestiniert - Auskunft über den Vater und Politiker Willy B. zu geben. Ein in vieler Hinsicht schwieriges Unterfangen.

Zum einen war Willy Brandt stark darauf bedacht gewesen, an seinem Bild in der Geschichte selbst kräftig mit zu malen. Dies um so mehr, da der politische Gegner ihn, den deutschen Antifaschisten und Emigranten ob seines für die Mehrheit der Deutschen untypischen Lebenslaufs, immer wieder diffamierte und diskreditierte. Zweitens war Willy Brandt mit politischer Verantwortung in einer Zeit beladen, da komplizierte und kontroverse Richtungsentscheidungen gefordert waren, die zwar objektiv die Voraussetzungen boten, zu einer historisch bedeutsamen Persönlichkeit zu avancieren. Aber eben auch zu einer bevorzugten Zielperson für Angriffe der Kontrahenten und Rivalen, die es auch unter den eigenen Genossen gab. Wovon allein beispielsweise das üble Wort von Herbert Wehner in Moskau über den »Herrn, der gern lauwarm badet« zeugt.

Und schließlich scheint inzwischen alles über Willy Brandt gesagt und geschrieben. Es liegen etliche Memoirenbände von ihm selbst wie von seinen Freunden vor sowie Biografien von Historikern und darüber hinaus eine zehnbändige Ausgabe von Dokumenten aus dem Archiv der Stiftung Bundeskanzler Willy Brandt. So »schwankt sein Charakterbild in der Geschichte« eigentlich gar nicht mehr so sehr. Selbst einstige Gegner bezeugen ihm mehr oder minder großen Respekt. Das fortdauernde Interesse an dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler dürfte aber auch mit dem jetzigen Zustand seiner Partei zusammenhängen. Eine Erfolgsgeschichte aufzumachen, verbunden mit den Namen August Bebel, Kurt Schumacher und Willy Brandt in der Ahnengalerie, ist verständlicherweise verlockend.

Peter Brandt ist gelungen, was er sich selbst vornahm, »der Versuchung zu widerstehen, das Objekt meiner Bemühungen nach eigenen Wünschen idealisierend zurechtzuhobeln«. In zehn thematisch konzipierten Abschnitten werden die Facetten einer widersprüchlichen wie faszinierenden Persönlichkeit im Spiegel der wohl bewegendsten Jahrzehnte des »Jahrhunderts der Extreme« entfaltet. Dabei half dem Autor der analytisch-kritische Blick des professionellen Historikers, aber auch - worauf der Verfasser indes nur gelegentlich und lapidar eingeht - »dass es eine beträchtliche Periode politischer Differenzen zwischen meinem Vater und mir gab, die ins Grundsätzliche gingen«. Wohlwollend ist das Bestreben des Sohnes, sein Urteil über den Vater, dessen Erfolge und Fehler, nicht nach dem eigenen Standpunkt, sei er von damals oder heute, zu fällen. Sondern als Maßstab die Überzeugungen und Ziele des Vaters heranzuziehen.

Bezüglich der Ost- und Deutschlandpolitik ist dies überzeugender gelungen als an manch anderen Stellen. Der Autor argumentiert hier gegen die seit 1989 bevorzugte Version, es sei beim Konzept des »Wandels durch Annäherung« von Anfang an um die deutsche Vereinigung gegangen. Peter Brandt sieht die Ursprungsidee in der Erkenntnis, die deutsche Frage mit der Lösung der europäischen und weltweiten Friedensfrage zu verknüpfen. Wenn Willy Brandt hier letztlich der Erfolg versagt blieb, so auch auf Grund des Versagens und der Schwäche der für die Umsetzung dieser Politik notwendigen Partner im Osten.

Besonders lesenswert sind die Passagen zum Wirken von Willy Brandt als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission, wo er eine realistischere Position zur Migrationsfrage einnahm als heutige »Gutmenschen« auf Seiten der Linken.

Gewiss, über manche Sequenzen würde man gern mit Peter Brandt diskutieren. Es ist nur natürlich, dass Ostdeutsche auf manche Ereignisse und Prozesse eine andere Sicht haben. Eben das ist auch ein Vorzug dieses Buches. Es lädt zum kollegialen Streit ein. Vor allem aber ist es ein brillant verfasster, hoch informativer, anregender Text, dessen Alleinstellungsmerkmal unter den vielen zum 100. Geburtstag Brandts im Dezember bereits erschienenen Bücher die persönliche Note ist.

Peter Brandt:
Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt. J.H.W. Dietz.
280 S., geb., 24,90 €

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