Ein bisschen wie eine zweite Abiturzeit
Die Bologna-Reform hat das Studium grundlegend verändert. Nicht nur der Konkurrenzdruck ist größer geworden, auch das »Bulimielernen« hat zugenommen. Von Houssam Hamade
Es ist klug vom Staat, Leuten wie mir das späte Studium zu ermöglichen. Wir wissen, was wir wollen, und das Gelernte fällt bei uns auf lebenspraktisch genährten Grund. Wir sind eine gute Investition, und wir sind dankbar. Allerdings wäre ich froh gewesen, wenn ich nicht teuer und mühsam dreieinhalb Jahre lang das Abitur hätte nachholen müssen. Eine haushohe Hürde, die anzugehen mich einige Jahre gekostet hat. Nun bin ich aber kurz davor, meine Bachelorarbeit im Fach Sozialwissenschaften zu schreiben - kurz vor meinem 40. Geburtstag. Das ist spät. Da drängt es einen, voran zu kommen.
Der späte Studienbeginn hat aber noch einen weiteren Nachteil: Man muss im Bachelor-System studieren. Es wird einem schnell wenig fundiertes Meckern vorgeworfen, wenn man über »den Bachelor« schimpft. Man muss es auch zugeben: Die Studiengänge sind (so heißt es) international vergleichbarer und anpassbarer. Das ist schön. Und mit dem Bachelor lässt sich mehr anfangen als mit einem Vorstudium aus alten »Diplom«-Zeiten. Allerdings können immer noch viele Unternehmen kaum etwas mit einem »Bachelor« anfangen.
Die ersten drei Semester waren hart. In meinem Studiengang herrschte, zumindest anfangs, ein ungeheurer Konkurrenzdruck. Außerdem war das Studium in diesen ersten Semestern vollgestopft mit Lesestoff, Klausuren und Tests. Ein bisschen wie eine zweite Abiturzeit. Schon bei den berüchtigten Statistik-Modulen stiegen einige - trotz Einser-Abis - bei der ersten Klausur aus.
Die anderen Pflichtfächer waren völlig überfrachtet. 200 bis teils 400 Seiten mussten in einer Woche gelesen werden: Marx, Max Weber, Durkheim und Michael Mann auf Englisch. Harter Stoff. Aber wissenshungrig wie ich war, las und las ich, und versuchte alles in mich hineinzustopfen, was mir aufgeschaufelt wurde. Bis ich dann bei einem Text über das politische System der EU, den ich im Februar las, bemerkte, dass ich genau diesen Text im Oktober schon einmal gelesen hatte. Ich bemerkte das aber erst nach 12 Seiten. Nichts war hängengeblieben, nichts eingesunken, weil die Flut an Informationen alles mit sich gespült hatte.
Das nennt man »Bulimielernen«. Zu einer Klausur über Familiensoziologie musste man das vom Herrn Professor geschriebene Fachbuch bis in alle Verästelungen hinein auswendig lernen, sowie 23 dazugehörige Fachtexte verstehen, wollte man eine Eins erhalten. Den meisten war das nur möglich, indem sie ihren Kurzzeitspeicher bis zum Brechen füllten, um den Großteil der Informationen gleich wieder auszukippen wie verbrauchtes Wasser.
Die Eins ist Ehrensache, wie man beim kindlich-aufgeregten Notenvergleichen nach der offiziellen Notenvergabe am großmütig-überlegen gelächelten: »Na, Zwei ist doch gut« des »Einsers« gegenüber der »Zwei« bemerkte. Jede Eins-Null ist wie Kokain, jede Drei eine kleine Kränkung. Das Bachelorsystem mit seinen Klausuren, den vollgestopften Studienplänen und dem Leistungsdruck befeuert eine fast aggressive Stimmung.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich liebe mein Studium. Es drängt mich aber, alles zu verwerten, was vor die Augen kommt. Auch das Studieren soll reduziert werden auf die Maßeinheiten Sieg und Geld.
Aber glücklicherweise sind wir keine Automaten. Inzwischen habe ich mich sogar ein wenig entspannt. Ab dem vierten Semester waren die Pflichtklausuren vorbei. Nun musste ich nur noch Hausarbeiten schreiben. Mit »Bulimielernen« war damit erst einmal Schluss. Wenn man sich den Stoff einteilt, kommt man endlich dazu, auch zu Studieren, um das Denken zu lernen, und nicht nur um Einsen zu bekommen.
Man muss es sich aber bewusst leichter machen, um es richtig zu machen. Der Trick ist der: Du belegst einige Kurse, die »leichte Punkte« sind. Du liest nicht mehr jeden Text, sondern nur noch die Nötigen oder die, die dich interessieren. Du studierst eben ein Semester länger, denn »nur Chuck Norris studiert in Regelstudienzeit«.
Und dann meinst du, du hättest die Verwertungsmaschinerie ausgetrickst und jagst doch den Einsen hinterher als wären sie weißes Puder und merkst beim Schließen von Bekanntschaften doch, dass du auf die Wirkung des altbekannten Vitamin B hoffst.
Und das mir! In meinem Alter! Dabei ist das Fach Sozialwissenschaften in Bezug auf Verschulung und Leistungsdruck noch milde. Spricht man beispielsweise mit Juristen, berichten die von durchlernten Nächten. Manche scheinen den Unterschied zwischen Lernen und »Bulimielernen« nicht mehr zu kennen und schniefen in ihrer Verzweiflung Speed, um stärker und schneller zu werden.
Ich kann nicht sagen, inwieweit das die Regel oder die Ausnahme ist. Menschen sind verschieden, und manche haben sicher auch ein dickeres Fell und leiden noch nicht einmal unter dem neuen System. Aber es ist die Frage, ob diese Gesellschaft nur dickfellige Menschen mit einem trainierten Kurzzeitspeicher an den Schaltzentralen haben möchte.
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