Hase im Rausch - der Verwitterung
Eine große Schau in den Kunst-Werken erinnert an Christoph Schlingensief
So war das doch! Ja, so toll und wirr! Ich erinnere mich an »Bambiland« an Wiens Burg: Auf einer riesigen Leinwand der düstere Zug der Schlingensief-Truppe durch die Innenstadt, ein Transparent fordert: »Terror für alle!« Auf der Bühne kräht Mutti: »Christoph! Vater ist im Krieg! Vater ist im Fernsehen!« Was ja heutzutage, seit Irak, identisch ist. Später wird es von irgendwoher heißen: »Sie können unsere Häuser in Brand stecken, aber nicht unseren Fernseher!« Oder »Atta Atta - die Kunst ist ausgebrochen« an Berlins Volksbühne: Einer spielt den Blutmaler Hermann Nitsch und drückt am Körper Tomaten aus - um sich selbst auszudrücken. Im Wohnzimmer der Schlingensiefs sitzt auch Onkel Willi, der aussieht wie Osama bin Laden und von der DDR erzählt. Ku-Klux-Klan-Kopftüten tauchen auf. Einer wird geprügelt, bis er »Schönheit« sagt.
Es war schön, irre, witzig, unüberschaubar, unbegreiflich. Die Kunst des Christoph Schlingensief, der 2010 starb: belächelt, beschimpft, bewundert. Am Ende nahezu geheiligt; immer wandeln sich, wenn einer nur genügend geschmäht wird, die Verletzungen in Vorzeichen des Adels. Aino Laberenz, Schlingensiefs Frau und Mitarbeiterin, sowie die Kuratoren Klaus Biesenbach, Anna-Catharina Gebbers und Susanne Pfeffer errichteten nun in allen Stockwerken der Berliner Kunst-Werke ein großes Schlingensief-Memorial aus überbordender Rumpelkammer-Leidenschaft. Nächster Zeigeort wird New York sein. Weit mehr als eine Beuys-Beerbung.
Man geht durch dieses vielfach dustere, verdämmerte Museum der Requisiten und muss es selber mit Existenz füllen, mit lebendiger Erinnerung. Im Grunde eine Ausstellung für Eingeweihte. Die Schlingensief wahrnahmen, für wahr nahmen, als er noch Kämpfender sein musste, als er noch kein allseits anerkannter »Sterbelehrer« war, wie er selber sagte. Du schaust Gegenstände und siehst plötzlich wieder ganze Inszenierungen der Volksbühne, denkst an »Rosebud« oder »Kunst und Gemüse, A. Hipler«. Siehst wieder alles vorüberziehen. Stacheldraht. Volksempfänger. Schreibtisch. Wagner-Kulissen dampfen. Irgend jemand schreit nach Jean-Luc Godard. Die ewige Flickwerk-Collection. Jede Handlung besteht aus dem Erstarren im Versuch, in größeren Zusammenhängen Sinngebendes zu tun. Man befand sich stets im flirrenden, gemüsebunten Ausnahmezustand zwischen Voyeurismus und Tiefenforschung.
Schlingensief bewies: Am Denken scheitert jedes Material - und setzt sich trotzdem durch. Jede Aufführung, jede Installation, jede Aktion (»Tötet Helmut Kohl!«, Gründung der Partei »Chance 2000«, die Splatter-Talk-Shows) regte an, sich mit dem eigenen Erwartungsselbstbetrug zu beschäftigen. Er hat den Nazi Kühnen zur Bühnenfigur erhoben. Mit dem Big-Brother-Modell kitzelte er in Wiens Zentrum die »Ausländer raus!«-Moral aus den Leuten heraus - zwei Container der Performance stehen auf der Straße vorm Ausstellungsgebäude. Schamane, Kitachef aller Erwachsenen, ein begnadet barbarischer Techniker des Tumults. Und wenn der kürzeste Weg zu sich selber um die Welt herum führt, so zeigte Schlingensiefs Talkgeschnipsel, dass der kürzeste Weg, sich zu verlieren, der direkte Blick in eine Kamera ist. Die zahlreichen Bildschirme in der Ausstellung erzählen.
Und so blickt man auch wieder in die Gesichter jener Randständigen, mit denen Schlingensief sein Theater betrieb. Autisten mit plötzlich so prunkvoller, fröhlicher Identität auf wahrlich offener Bühne: So wie Kafka nicht wusste, dass er Kafka ist, so strahlten diese Menschen, die geistig und körperlich darin behindert wurden, so zu werden, wie wir sind, immer wieder eine starke, reflexionsfreie Aura der Neubelebung aus. Lauter Don Quichotes, lauter Sancho Pansas, lauter koboldige Könige. Sie wurden von Schlingensief nie instrumentalisiert, sondern in nach wie vor sensationeller Weise in glückliche Lebensmomente freigelassen. Ein Theater des ewigen, organisiert planlosen Kreisens um die große Leerstelle. Zeittiefer geht’s kaum.
Eine große Farbbildfläche zeigt viele Leute beim »Baden im Wolfgangsee«, mit dem Schlingensief den See zum Überlaufen und den Urlauber Helmut Kohl in die Flucht schlagen wollte. Zu sehen auch der gigantische »Animatograph«. Eine Militärschrott-Installation, umrahmt von alten Stehlampen des kleinbürgerlichen Wohnstubenbarocks - geh hinein und denk dich in die Mythen der Polgegend, spinn dich ein ins ferne Afrika. Natürlich drängt hier das Operndorf von Ouagadougou in die Sinne, ein soziales Zentrum mit Schule und Krankenstation.
Eine Gespensterschau. Eine bundesdeutsche Zeitmaschine. Ein Museum der Bös-Artigkeiten. Es blinkt, es krächzt, es glänzt, es rostet. Filme (»Das deutsche Kettensägenmassaker«) blutbeuteln dich an. Es ist zum Lachen. Draußen, auf dem Hof, die fast lieblich anmutende Holzkirche, die »Church of Fear«, Biennale Venedig 2003. Ich denke an eine Szene: Ein kleiner Junge spielt mit dem Holzgewehr. Er sinkt zusammen, er spielt Erschossenwerden. Leben ist schön, wenn Sterben Spiel ist. Der kleine Christoph auf dem 8-mm-Film des Vaters, fürs Heimkino. Eine Szene aus der »Kirche der Angst vor dem Fremden in mir«, seinem letzten großen Werk. Ein Abend, der schreiend, tanzend, verzweifelt, grotesk trotzig, wütend, schluchzend den Tod herbeirief, um ihn zu bannen. Schlingensief, in seiner Krebskrankheit wühlend, scheuchte den Tod in uns auf, und wir wurden gewahr, wo überall er steckt wie ein tausendköpfiges Wesen; er steckt in jeder Sekunde, die zu leichtfertig, und in jedem Moment, der zu schwerfällig verbracht wird; er hat die Kraft so besetzt wie die Resignation; er schüttelt in unsere Bejahungen seinen allwissenden Kopf; in unsere verzweifelten Verneinungen hinein nickt er zufrieden. Er ist allhie, ist der Igel in jenem Märchen, das wir Wirklichkeit nennen, und wir sind der vermeintlich flinke Hase, der alles abschüttelt - der Hase ist bei Schlingensief das in Zeitraffer verwesende Wesen, die Film-Metapher aus seinem »Parsifal« in Bayreuth. Von den Proben gibt es einen wunderbar verwackelten, heimlich gedrehten Film.
Er war hochgradig peinlich in seiner öffentlich zur Schau gestellten Privatheit, aber er war damit derjenige, der uns jenen Terror des Privaten, mit dem Öffentlichkeit medial durchätzt ist, so sehr bewusst machte. 1960 wurde der Apothekersohn geboren, bezeichnenderweise in Oberhausen, damaligem Quellort einer manifestativ neuen deutschen Filmsprache. Ein Messdiener-Schicksal, das musste zur Kunst führen. Katholische Neurose traf irgendwann auf befreienden Ausbruch; das Geknebelte einer Psyche suchte süchtig nach Räudigem, Anstößigem. Der Vater hatte einen 8-mm-Urlaubsfilm falsch geklebt, »über unsere Bäuche liefen plötzlich Leute - da war er, der mich dauerhaft beschäftigen würde: der Perspektivwechsel, die schöne Behauptung: Ich sehe was, was du nicht siehst.«
Bis 19. Januar in den Kunst-Werken Berlin, Auguststraße 69. Geöffnet Mi-Mo 12-19 Uhr, Do 12-21 Uhr, Dienstags geschlossen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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