Kommunizierendes Röhren
Da wo man singt, da lass dich ruhig nieder? Tom Strohschneider über Hasslieder und die Linken
Göttingen, Anfang Juni 2012. Gregor Gysi steht auf einer Bühne in einem ehemaligen Lokschuppen und sagt: »In unserer Fraktion im Bundestag herrscht auch Hass.« Bamm.
Gysi spricht es auf dem Parteitag der LINKEN nicht aus Mitteilungsdrang aus, seine Worte klingen eher wie der Versuch, einen bösen Zauber zu verjagen - indem man ihn laut herausruft. Ab nun wird man von der Hass-Rede sprechen, obwohl es ja eine Rede über den Hass sein sollte, eine Rede gegen den Hass.
Gibt es zwischen Linken mehr davon als unter Konservativen oder Grünen? Warum sollten Sozialisten eine besondere Fähigkeit zu intensiver, scharfer Antipathie haben? Liegt vielleicht in der Übergröße ihres politischen Ziels, die Welt umwälzen zu wollen, eine Neigung zum übergroßen negativen Gefühl? Oder ist es eher so, dass die reale Schwäche gegenüber »dem System« dazu verleitet, sich selbst gegenüber besonders rabiat zu sein?
Unlängst tauchte »das geheime Hass-Liederbuch der Ost-Linken« auf. Niemand hatte es vorher so genannt. Es landete - aus welchen Gründen? - bei Springers »Welt«, die Schlagzeilenmaschine lief heiß. Typisch, dachten die einen, und sahen ihr Vorurteil über »die anderen« in der Partei bestätigt. Typisch, dachten auch andere, meinten aber nicht dasselbe Lager in der Partei. Typisch, dachten die nächsten, und sahen ihre Sicht auf die ganze LINKE bestätigt. Von Hetze war die Rede, der Parteivorstand musste einen Beschluss fassen: Man werde »derart diffamierende Umgangsformen in der Partei nicht tolerieren«.
Wer über »das geheime Hass-Liederbuch« redet, kann freilich von Göttingen nicht schweigen. Abneigung, ja Verachtung wehte auch durch den Lokschuppen, in dem Gysi seine »Hass-Rede« hielt. Und auch dort kam sie als Lied daher. Als der Kandidat des einen Flügels für den Vorsitz knapp unterlag, wurde auf dem anderen »Ihr habt den Krieg verloren« angestimmt.
Lothar Bisky, der große Mann der Linken, der viel zu früh verstorben ist, hat in seinem »Versuch zur Verdächtigungskultur« vor einigen Jahren - die Partei hatte sich mal wieder in eine Lage manövriert, in der sich Hass entlud - über den Hang zur »vernichtenden Abstempelung« in den eigenen Reihen geschrieben: »Verdächtigung entsteht sowohl aus Unsicherheiten als auch aus übertriebenen Gewissheiten«.
An letzteren herrschte in der Linken noch nie ein Mangel. Die »ideologische Scharfrichterei«, von der Lothar Bisky auch sprach, ist so etwas wie die Mutter des Hasses in der Linken. In Göttingen sagte Gysi, »der Hang zur Selbstzerstörung hat damit zu tun, das man die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt«. Die virtuelle heißt Internet und wird schnell verwechselt mit der Wirklichkeit. Wer über »Hass in der Linken« spricht, wird auch darüber reden müssen: über einen Resonanzboden, auf dem noch der kleinste Kieselstein zum zerstörerischen Fels werden kann, groß und gefährlich binnen 42 Gefällt-mir-Klicks in der »Bubble«. Was man da alles über das »geheime Hass-Liederbuch der Ost-Linken« lesen musste! Und was alles über die Hohngesänge von Göttingen. Und überhaupt. Wenn man so will: »kommunizierendes Röhren«.
Was als »Hass« zwischen Linken erscheint, hat dabei immer etwas Tragisches, weil der Gedanke so nahe liegt, dass hier ein Gefühl viel größer ist als das Fundament der wirklich unüberwindbaren Differenzen, auf dem es in die Höhe wächst. Es hat etwas Trauriges, wenn Antipathie mit großer Geste in Stellung gebracht wird zu angeblichen Gunsten von Leuten, denen das in Wahrheit ja nur schadet. Und es hat etwas Absurdes, weil die Stärke der beobachteten Abneigung mit jedem Zentimeter Entfernung von der Linkspartei für den Beobachter immer weniger erklärbar erscheint. Jedenfalls politisch. Und wer will denn schon die Linke zum Fall für Psychologen machen?
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