Die Fallhöhenangst
Linker Selbsthass - als Antwort darauf, dass man rücksichtslos fordernd war, gegen andere, gegen sich selbst
Der linke Mensch hat keine Höhenangst. Das ehrt ihn, weil er somit ungehemmt dem Edelsten dienen kann: einer Höherentwicklung der Welt, im ganz umfassenden Sinne. Der linke Mensch hat aber oftmals auch keine Fallhöhenangst. Das ehrt ihn weniger, weil dies ja arge Lageverkennungen einschließt, die mit Abstürzen auf den Boden unliebsamer Tatsachen enden. Menschen sind die unliebsamsten Tatsachen, sie lassen sich so ungern belehren, und sei es zum Besseren.
Kommt der linke Mensch hinter diese Wahrheit, knirscht er mit den Zähnen. Vielleicht, um sie neu zu schärfen. Oder es beginnt anderes: Selbstzerknirschung. »Wenn der Linke«, so der Schriftsteller Robert Schindel, »von der Mitgliedschaft im ewigen Rechthaberverein entlastet ist, dann werden ihm Blicke in den Rück-Spiegel wehtun, er kommt, wenn er noch bei Troste ist, um ein Quantum Selbsthass nicht herum.«
Selbsthass, weil man sich dem Furor des Revolutionierens hingab? Ja, weil das Beschwören des Ideals damit verbunden war, sich als Sieger der Geschichte zu wähnen. Aber als sich die Pulverdämpfe des 20. Jahrhunderts verzogen, stand man blamiert vor der ideologischen Betriebsanleitung: Man hatte das Utopische nämlich nicht nur denken, sondern schon leben wollen, und wollte man das Utopische leben, musste man es versklaven, musste also das Ideal auf das blasse, aber tönende Niveau von Parteibeschlüssen drücken.
Die Wirklichkeit war einem Plan unterworfen, dem sie doch gar nicht folgen konnte. Und auch mehr und mehr Menschen wollten nicht folgen. Und da soll nicht Selbsthass entstehen? Unmut gegen die Konsequenz, mit der man weggesehen, eingesehen, drüber weg gesehen hatte? Unmut gegen die Fraglosigkeit, mit der man, letztlich, zur Lüge Einsicht sagte, zur Feigheit Disziplin, zum mehrheitlichen Schweigen Geschlossenheit, zum Dogma Wissenschaft? Man sprach von lichter Zukunft. Licht? Der Weg der Sonne, die in Petrograd auf- und in Workuta unterging. Sozialismus, das hieß: Die Zukunft ist gewiss, nur die Vergangenheit ändert sich jeden Tag. Wer das mit- und durchmacht, wie soll sich der sich nicht hassend gram sein?!
Schriftsteller Arthur Koestler sprach von »plötzlich hochkommender Empfindlichkeit und Scham«, sich »so messianisch« gedünkt »und selbst so erhöht zu haben«, dass »einem die Menschen zu Erziehungsobjekten wurden, die man je nach ihrem Bewusstseinsstand Genossen oder Unkraut nannte.« Und Manes Sperber: »Man glaubte tatsächlich, die hohe Idee und das eigene kleine Leben zur widerspruchsfreien Einheit zusammenführen zu können. Das ist zunächst eine großartige Vorstellung, weil sie über das geringe Dasein hinausführt, und hierin lag wohl immer schon ein Kern des kommunistischen Überlegenheitsgebarens.«
Gesund sei der Selbsthass nicht? Er ist ein Defekt wie alle Dinge, die mit »Selbst« beginnen: Selbstliebe, Selbstmitleid. Sogar Selbstlosigkeit kann fürchten machen, weil sie eine Form der Selbstaufgabe ist. Aber der Selbsthass ist zugleich nicht minder nützlich als anderes, das mit »Selbst« beginnt: Selbstschutz, Selbstbefragung, Selbsterkenntnis. Gilt das Extrem als unbekömmlich, so trifft das auf den Hass ebenso zu wie auf die Liebe. Klar: Immer sind es die Brusttöne, die einer Überzeugung wie auch der Abkehr von einer Überzeugung den abstoßenden Klang geben - stiller Selbsthass dagegen ist ein anderes Wort für Schmerz; den muss man aushalten können, und man darf das Lehrreiche darin begreifen.
Der Publizist Günter Gaus nannte sich einen »linken Konservativen«. Da klingen die Bremsen mit, um sich nicht im ideellen Überschuss zu überschlagen. Es klingt nach einem bekömmlichen Gemüt, das sich Vorsicht und Rücksicht bewahrt. Rücksicht auf andere und auf sich selbst.
Der linke Selbsthass ist eine Antwort darauf, dass man rücksichtslos fordernd war, gegen andere, gegen sich selbst. Man lebte die Sache, nicht sich. Man versäumte keine soldatische Pflicht, aber Vieles, was zum Leben gehört. Und wenn eines Tages die Uniformknöpfe im Hirn wegplatzen, steht man sehr verärgert vor den Signalen einer verlorenen Zeit. Im linken Selbsthass liegt so der Keim zur Selbstfindung. Für das wahre Linkssein: den Menschen als »das gezeichnete Ich« (Benn) höher zu schätzen als ein erzieherisches Bild von ihm. Schön, einen Text über eine Hass-Spielart mit einer Definition der Nächstenliebe zu enden.
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