Kernschmelze im Labor
Der genaue Ablauf der Atomkatastrophe von Fukushima ist noch immer unklar. Ein Experiment soll offene Fragen klären
Japan steht erneut vor einer Kernschmelze. Fast drei Jahre nach der Atomkatastrophe in Fukushima wollen Wissenschaftler den Unfallhergang nachstellen und einen kleinen Brennstab zur Kernschmelze bringen. Von dem Experiment erhofft man sich Hinweise auf den Zustand der insgesamt 1496 geschmolzenen Brennstäbe aus drei Reaktoren. Die Ergebnisse sollen auch helfen, Technologien zu entwickeln, mit denen die hochradioaktiven Schmelzmassen aus den Trümmern der völlig zerstörten Anlage geborgen werden können. Die Wissenschaftler wollen einen 30 Zentimeter langen Minibrennstab in einer Stahlkapsel zum Schmelzen bringen. Das Experiment wird ab Ende März in einem Versuchsreaktor in der Präfektur Ibaraki, etwa 120 Kilometer nördlich von Tokio, durchgeführt.
Nachdem der Tsunami vom 11. März 2011 die Kühlsysteme der Fukushima-Anlage außer Kraft gesetzt hatte, waren die Reaktorkerne von drei Kraftwerksblöcken geschmolzen. Niemand weiß, wo und in welchem Zustand sich das höchst radioaktive Material aus Hunderten geschmolzener Brennstäben befindet. Arbeiter können sich den Reaktordruckbehältern wegen tödlich hoher Strahlung noch nicht nähern.
Bis heute beruhen alle Annahmen über den Verbleib der Kernschmelzen auf Computersimulationen, die mit den wenigen Messdaten gefüttert wurden, welche die Betreibergesellschaft Tepco trotz des Stromausfalls unmittelbar nach dem Unfall ermittelte.
Die gegenwärtigen Simulationen gehen davon aus, dass die Kernschmelze bei etwa 2000 Grad Celsius beginnt. Demnach ereigneten sich die Kernschmelzen 4 bis 77 Stunden nach dem Erdbeben. Nach aktuellen Berechnungen haben sich die Reaktorkerne durch die Böden der Druckbehälter gefressen und sind mittlerweile wahrscheinlich als erstarrte Massen irgendwo im Betonboden der Reaktoren.
»Die gegenwärtige Berechnungsmethode stößt an ihre Grenzen, wenn es um Präzision geht«, gab ein hochrangiger Tepco-Vertreter jüngst gegenüber japanischen Journalisten zu. Unter anderem fehlen Daten über die Temperaturen und den Wasserstand in den Reaktordruckbehältern aus den ersten Stunden und Tagen nach dem Tsunami. »Wir hoffen, dass unsere Messdaten dazu beitragen werden zu verstehen, was genau bei dem Fukushima-Unfall passiert ist«, sagte Tomoyuki Sugiyama von der Japanischen Atomenergiebehörde JAEA, die das Experiment durchführen wird.
Die Wissenschaftler wollen eine Kamera in die Stahlkapsel einbauen, die aufzeichnen soll, wie der Brennstab schmilzt. Darüber hinaus wollen Sugiyama und seine Kollegen Daten über den Schmelzpunkt und die Druckverhältnisse in dem Mini-Reaktor ermitteln. Wenn die hochgradig strahlende Schmelzmasse erstarrt ist, soll sie analysiert werden. Die gewonnenen Daten sollen Tepco helfen, die Computersimulationen über den Unfallhergang zu präzisieren. Die JAEA versicherte, für das Experiment gebe es angesichts der geringen Brennstoffmenge keine Sicherheitsbedenken.
Im Jahr 2020, wenn hoffentlich klar ist, wo und in welchem Zustand sich die geschmolzenen Reaktorkerne befinden, will die Regierung mit der Bergung des radioaktiven Materials beginnen.
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