Spieler? Künstler? Verräter?

Im Panorama: »Anderson« von Annekatrin Hendel

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Panorama ruft Filmemacherin Annekatrin Hendel die Geschichte des Stasi-Zuträgers Sascha Anderson in Erinnerung. Ihr Film »Anderson« porträtiert jenen charismatischen Menschenfänger, der die Literatenszene von Prenzlauer Berg prägte - und verriet.

In anderen Gesellschaften hätte man ihn nicht überleben lassen.» Der Satz, von einem der früheren Freunde Sascha Andersons gesagt, fällt beiläufig, wird ohne Zorn in die Kamera gesprochen, eher wie über sich selbst verwundert. Es geht um Freundesverrat, das scheint schlimm genug.

Aber es geht um mehr, darum, was von der DDR-Underground-Szene des Prenzlauer Bergs blieb. Und um noch mehr: Um die Frage, was die Literatur und Kunst der DDR denn überhaupt wert ist. Und schließlich geht es ums Ganze: Durfte man jemanden, der aus der DDR kam, nach dem «Fall Anderson» überhaupt noch trauen, war man denn geeignet, eine führende Position einzunehmen, eine Vertrauensstelle, die Integrität voraussetzt? Seit Anderson stehen wir alle, die wir in der DDR begonnen haben zu denken und zu schreiben, unter einem Generalverdacht. Seit Anderson müssen wir uns rechtfertigen, beweisen, dass wir sauber sind. Anderson war der Auftakt zum großen Jagen, mit ihm begann die Delegitimation einst im Westen umworbener Stimmen aus der DDR. Sogar Heiner Müller, Christa Wolf und Stefan Heym versuchte das westdeutsche Feuilleton (besonders die «Zeit» und der «Spiegel» taten sich dabei unrühmlich hervor) zu demontieren.

Wenn wir jetzt also wieder einmal, nachdem die Aufregung lange verebbt ist, der Skandal medial abgefeiert, über Anderson als Mensch und nicht nur als «Fall» reden, dann reden wir eben nicht nur über ihn, nicht nur über die Staatssicherheit der DDR und ihre Perfidien, sondern auch über uns selbst.

Die Filmemacherin Annekatrin Hendel hat bereits «Vaterlandsverräter» über den Autor Paul Gratzik («Transportpaule») gedreht. Seitdem wissen wir um den gut dokumentierten Versuch einiger Stasi-Offiziere, sich einen sozialistisch-proletarischen Vorzeigeautor nach eigenen Vorstellungen zu backen, einen zweiten Volker Braun, der ihnen jedoch, im Unterschied zu diesem, keinen Ärger machte. Aber erstens war Gratzik literarisch kein Volker Braun und zweitens hatten seine Führungsoffiziere mit einem nicht gerechnet: In dem eine zeitlang willfährigen Autor erwachte plötzlich die Renitenz, er wollte plötzlich nicht mehr mitspielen.

Anderson jedoch hat immer mitgespielt, er spielt, so glaube ich nach diesem Film, immer noch, es ist seine zweite Natur. Nun ist es für einen Dichter ganz normal, ein spielerisches Verhältnis zur Wirklichkeit zu haben, ein Dichter erfindet sich immer wieder neu. Aber im Idealfall sind diese geprobten Identitätswechsel, Persönlichkeitserweiterungen bis zu Allmachtsanwandlungen, auf das Schreiben begrenzt. Gottfried Benn etwa, der sich selbst als «schizotymen Charakter» ansah, verteidigte sein unscheinbares, fast kleinbürgerliches Dasein. Er sah darin die notwenige Erdung seiner Existenz als Autor, die aus radikalen Schreib-Exerzitien bis zum Exzess bestand. Anderson jedoch lebte sich nicht in seinem Werk, sondern in seinem Alltag aus. Darum gibt es von ihn auch kein Werk, das ihn und seinen Lebenslauf irgendwie entlasten könnte. Das ist der kleine Unterschied um alles.

Ekkehard Maaß und Wilfriede Maaß (die ihren Mann einst für Anderson verließ), der Lyriker und Kneipenbetreiber Bert Papenfuß, die Kameraleute Lars Barthel und Thomas Plenert, die Galeristen und Fotografen Ingrid und Dietrich Bahß, der einstige «Kennzeichen D»-Journalist Holger Kulick, der Chef der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn (der einst Anderson wichtige Medien-Kontakte im Westen vermittelte, darunter ein «Spiegel»-Interview): Sie alle wirken durch die Begegnung mit Sascha Anderson beschädigt. Ist das nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass er sie sämtlich auf verschiedenste Weise ausnutzte und noch dazu als IM überaus eifrig bespitzelte?

Nein, nicht allein dies. Anderson ist ein Seelenfänger mit Charisma. Heute lebt er übrigens mit einer Tochter von Martin Walser zusammen, arbeitet als Typograph. Die Faszination, die von ihm ausging, klingt immer dann nach, wenn Frauen über ihn sprechen: Von seiner erotischen Art sich zu bewegen, darüber wie er seine Jeans, seine Haare oder seine Brille trug. Ja, man bewunderte und verklärte ihn, stellte ihn selbst aufs Podest. So war er tatsächlich nicht nur der Allroundorganisator der Szene, der Ermöglicher, der über beste Westkontakte verfügte, der Autoren, Fotografen, Musikern wie Malern Wege ebnete; Anderson war der unbestrittene Popstar (auch mit seiner Band «Fabrik»), das von allen bewunderte Idol der Prenzlauer-Berg-Szene. Alle, die hier insgesamt so freundlich-zurückhaltend über Anderson reden, wissen sehr gut, ohne ihn gäbe es den Mythos Prenzlauer Berg nicht. Und von dem profitierten viele.

Um Anderson zu interviewen, hat die Regisseurin die Küche des Ehepaares Maaß, das in der Schönfließer Straße wohnte, im Studio nachbauen lassen. Dort war dieser, als er aus Dresden in den Prenzlauer Berg kam, bald ständiger Gast. Man redete, trank, rauchte, und Anderson nutzte jede Gelegenheit, sich darzustellen. Aber warum er den Verrat beging, die Gespräche im Nachhinein aufzuschreiben und weiterzugeben, das kann er nicht erklären. Er sagt, er wusste, dass es dem MfS darum ging, juristisch belastendes Material über seine Freunde zusammenzutragen. Er tat es trotzdem. Aus purer Lust, aus Freude an der Destruktion und dem Wissen, Macht über andere zu haben? Er sagt, diese Amoralität sei eine Folge seiner Zeit im Gefängnis, als er wegen Scheckbetrugs einsaß. Aber schon vorher, seit 1975 war Anderson IM. Er blieb es auch, nachdem er 1986 nach Westberlin ausreiste und sich als Underground-Dichter aus dem Osten feiern ließ.

Es ist ein Abgrund, den wir hier nur ahnen. Anderson - wie eh und je - sucht ihn mit viel Eloquenz umkreisend doch wieder nur zu verbergen. Annekatrin Hendel ist mit dabei, als er von Frankfurt am Main ins hessische Nidderau umzieht. Wir sehen ihn einen Karton mit Akten, seinen Akten, aus dem Keller tragen: «Da macht man sich dreckig!», ruft er. Nicht jetzt erst, weiß er das nicht? Ob er sie denn gelesen habe, will die Regisseurin von ihm wissen. Nein!, lautet seine Antwort, da werde er ja verrückt, wenn er das lese - und schließt eine Sentenz über das notwendige Gleichgewicht von Fremd- und Selbstbild an.

Im Von-sich-Geben von Sentenzen, Metaphern und Paradoxien war und ist Anderson erstklassig. Trotzdem hat es bei ihm - er ist inzwischen immerhin sechzig Jahre alt - nie zu einem Buch gereicht, das Bestand hatte. Woran liegt das? Vielleicht daran, dass ein notorischer Spieler, und sei er noch so geistreich, allein deshalb noch längst kein Schriftsteller ist, der anderen etwas zu sagen hat. Denn was treibt einen Autor, wenn nicht der fortgesetzte Versuch, über sich und sein Verhältnis zur Welt die Wahrheit herauszufinden? Die Wahrheit allerdings war für Anderson nie ein Thema, sie liegt außerhalb seines Horizonts, deshalb verlegte er sich auch früh - und überaus erfolgreich - auf das, was man heute Kulturmanagement nennt. Da gehört geschicktes Lügen anscheinend zum Geschäft.

Der Mittelpunkt von «Anderson» ist das Gespräch von Hendel mit Anderson. Nach der Aufführung in der Panorama-Reihe der Berlinale reagierte das Publikum darauf gespalten. Einige Zuschauer warfen der Regisseurin vor, nicht scharf genug nachgefragt zu haben. Warum gibt man so einem Menschen überhaupt eine Bühne?, lautete einer der Vorwürfe.

«Wir wussten immer, dass er lügt», sagen im Film alle, die mit ihm zu tun hatten. «Das gehörte zu ihm.» Das MfS sei der einzige Punkt im System der DDR gewesen, an den er sich gebunden habe. Und ausgerechnet dem Geheimdienst gegenüber wollte er loyal sein. Die fatale Folge: Mit Anderson hat uns das Ministerium für Staatssicherheit das Klischeebild eines völlig enthemmten, narzisstisch strukturierten Verräters seiner Freunde hinterlassen, der bis heute als Kronzeuge des Misstrauens gegen jeden herhalten muss, dessen eigene geistige Anfänge in der Endzeit der DDR lagen. Anderson war wie Dynamit an den Brückenpfeilern zwischen Ost-und-West-Intellektuellen. Aber vermutlich schmeichelt ihm das sogar.

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