Gleiche Chance für alle
Bundesverfassungsgericht kippt Drei-Prozent-Hürde für Einzug von Parteien ins Europäische Parlament
In der Espressobar Agata Torrisi in Berlin-Mitte sitzt der ehemalige Vorsitzende der Piratenpartei Bernd Schlömer vor einem Computerbildschirm, rechts von ihm Sprecherin Anita Möllering und fünf weitere Parteimitglieder. Von links sind mehrere Fernsehkameras auf ihn gerichtet. Die als Computernerds bekannten Piraten wissen nicht, wie sie den Ton der Live-Übertragung aus dem Saal des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe lauter stellen können, und so gehen alle Anwesenden möglichst nah an die Lautsprecher heran.
Die Piratenpartei hatte am Mittwoch zum Public Viewing geladen, um gemeinsam das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Einzug von Parteien ins Europäische Parlament zu verfolgen. Public Viewing - das war, als im Jahr 2006 plötzlich überall Deutschlandfähnchen an den Autos hingen und Hupkonzerte durch die lauen Abende tönten. Großflachbildfernseher und Leinwände waren ausverkauft, weil diese vor jeder dritten Kneipe aufgebaut waren, wo sich Menschen drängten, um die Fußballweltmeisterschaft zu verfolgen.
Der Torjubel beim piratigen Public Viewing folgte, als Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle die in Deutschland geltende Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig erklärte. Schlömer warf beide Arme in die Luft und stieß ein lautes »Ja!« aus, während die wenigen anderen Piraten um ihn herum jubelten. Das war's schon mit der Fußballstimmung. »Damit ist gezeigt worden, dass sich kleine Parteien in diesem Land noch durchsetzen können.«
Jeder Mitgliedstaat kann die Details des Wahlrechts zur EU-Wahl selbst regeln. In Deutschland galt bis 2011 wie bei den Wahlen zum Bundestag auch für das EU-Parlament eine Fünf-Prozent-Klausel. Dann kippte das Bundesverfassungsgericht die Hürde. Noch im gleichen Jahr beschloss der Bundestag, dass Parteien in Deutschland auf zumindest drei Prozent der Stimmen kommen müssen, um Abgeordnete nach Brüssel entsenden zu dürfen. Dagegen hatte lediglich die LINKE gestimmt. Die Piratenpartei, die NPD und 17 weitere Parteien sowie rund 1000 Einzelpersonen klagten in unterschiedlichen Anträgen auch gegen diese Regelung. Und haben nun Recht bekommen: Die Sperrklausel verstoße gegen die Chancengleichheit der Parteien, erklärte Voßkuhle in seiner Urteilsverkündung am Mittwoch.
CDU/CSU, SPD und Grüne hatten bei der Festlegung der Drei-Prozent-Klausel argumentiert, ein hürdenfreier Einzug von Kleinstparteien ins EU-Parlament führe zu einer Zersplitterung des Gremiums. Die Richter entschieden nun mit einer Mehrheit von fünf zu drei Stimmen, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht gefährdet und eine Sperrklausel damit nicht notwendig sei. Vielmehr sah das Gericht die Gefahr, »dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt«. Die Stimme jedes Wählers müsse grundsätzlich denselben Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben.
»Mit der heutigen Entscheidung des Gerichts ist gewährleistet, dass bei der kommenden Europawahl nicht wieder - wie vor fünf Jahren - ein erheblicher Teil der Wählerstimmen unter den Tisch fällt«, sagte Thorsten Wirth, Vorsitzender der Piratenpartei. Unterstützung erhielt das Urteil auch von der LINKEN: »Jeder Wähler kann nun ohne Angst, dass ihre oder seine Stimme wegen einer Sperrklausel verloren gehen könnte, bei der Europawahl die Kreuze auf dem Wahlschein machen«, sagte Linksfraktionschef Gregor Gysi. Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Matthias Höhn, sprach im sozialen Netzwerk Facebook in einer ersten Reaktion von einem »guten Tag für die Demokratie«.
Auch Hans-Christian Ströbele von den Grünen, der im Gegensatz zu seiner Fraktion im Bundestag ebenfalls gegen die Sperrklausel gestimmt hatte, sieht sich bestätigt. Das Karlsruher Urteil stärke die demokratische Stimmengleichheit, erklärte er. Dagegen sagte Rebecca Harms, die für die Grünen im EU-Parlament sitzt: »Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeugt von Unkenntnis oder Respektlosigkeit gegenüber dem Europäischen Parlament.« Ihr Kollege Reinhard Bütikofer fürchtet: »Die gefürchtete Zersplitterung im Europäischen Parlament muss nach Auffassung der Karlsruher Mehrheit erst eingetreten sein, bevor man ihr entgegentreten darf.«
Die Piraten hoffen, dass das Urteil ein Signal für die Bundestagswahlen ist und dort die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug von Parteien ebenfalls gekippt wird. »Wir leben nicht in Weimarer Verhältnissen«, sagte Bernd Schlömer, in denen sich rechte Parteien zu einer starken Fraktion zusammenschließen könnten.
Das Bundesverfassungsgericht selbst wies eine Übertragung des Urteils auf die Bundestagswahl zurück. Die Parlamente hätten grundsätzlich unterschiedliche Funktionen, heißt es in der Urteilsbegründung - während der Bundestag eine Regierung wählt, ist das beim EU-Parlament nicht der Fall. Auch diese Begründung zog Kritik auf sich: Der Grüne EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht twitterte: »Mit ihrem Urteil stufen die Richter die Versammlung in Brüssel & Straßburg so ein wie eine kommunale Veranstaltung.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.