- Kultur
- Buchmesse Leipzig
Anekdoten, die mehr erzählen, als es ein Epos könnte
Leo Ågren: Der russisch-finnische Krieg von beiden Seiten der Front. Ein Russe erzählt sein tragikomisches Leben, ein Finne macht ein Buch daraus
Im wintergrauen Leningrad der fünfziger Jahre sitzen zwei Männer zusammen, trinken Wodka und pusten auf ihre Teegläser. Beide heißen Leo. Einer ist Russe, einer Finne. Der Russe Leo Nilheim erzählt sein tragikomisches Leben. Der andere macht daraus später ein Buch: »Leo Nilheims Geschichte« von dem finnischen Autor Leo Ågren.
Mit dieser Begebenheit beginnt der Roman, den man in einer Nacht durchliest. Er handelt vom Soldatenleben im Zweiten Weltkrieg und ist doch ganz anders als das meiste zu diesem Thema. Leo Nilheim schildert seine Erlebnisse während der russisch-finnischen Kämpfe. Es ist eine lakonische Erzählung in leichtem Ton, angefüllt mit Anekdoten, die mehr über das Dasein im Krieg erzählen, als es ein ganzes Epos könnte.
Nach einer dörflichen Kindheit in Weißrussland fährt Leo mit seinen Kameraden an die Front. In dem überfüllten Güterwagon stinkt es bestialisch, alle leiden wegen der ewigen Kohlsuppe unter Blähungen. Abends lässt man deshalb die Türen offen.
Ein schlafender Soldat wird versehentlich hinausgestoßen, von einem albtraumgeplagten Kumpel, der wild um sich schlägt. Köpfe heben sich, schauen dem Stürzenden nach, sinken wieder in den Schlaf. Ein Toter mehr, was soll’s. Es sind solche Momente, in denen deutlich wird, was Leo die »Tollheit des Krieges« nennt, über die er immer wieder reflektiert.
Die größte Unmenschlichkeit steckt nicht im Feindkontakt, sondern im Alltag. Der Feind ist auch nur ein Mensch, aber Hunger und Schlafmangel sind Dämonen, gegen die man jeden Tag in die Schlacht zieht.
Auf einem Rübenacker liegt Leo an der karelischen Front, Kugeln zischen über seinem Kopf. Anstatt zu kämpfen, gräbt er gierig in der Erde, weil sein Körper es verlangt. Die gefrorenen Rüben verschlingt er mit Dreck und Schale. Am Abend wird er ausgezeichnet, weil er die Stellung trotz Feindbeschuss gehalten hat. Patriotismus wird hier ganz nebenbei mit einem schiefen Lächeln vom Tisch gefegt.
Als Leo von den eigenen Leuten als Verräter exekutiert werden soll, weil er auf seinem Posten eingenickt ist, (»Ein sozialistischer Soldat schläft nicht ein!«), denkt er dumpf: »Ich wusste, dass es nur Vernichtung geben würde und dass ich dann endlich ausschlafen konnte.« Doch er überlebt - auf jene skurrile Weise, auf die man nur im Krieg überleben kann. Er gerät in Feindeshand und kommt schließlich als Gefangener auf einen finnischen Bauernhof, in die Provinz Österbotten, aus der auch der Autor stammt. Dort findet er ein absurdes Gefühl von Heimat.
»Leo Nilheims Geschichte« ist ein dünnes Buch ohne Schnörkel, aber mit erzählerischer Kraft. Es ist erstaunlich, wie nachdenklich und zugleich humorvoll es daherkommt. Vielleicht lässt sich das wahre Grauen nur im leichten Ton erzählen.
Als das Buch 1971 erstmals erschien, trug es den Titel »Krigshistoria«, Kriegsgeschichte, und wurde von Kritikern begeistert besprochen. Erik Gloßmann hat es dem Osburg Verlag empfohlen, neu übersetzt und eigens mit einem Nachwort versehen. Es ist eines seiner Lieblingsbücher, das er als »Teil der Weltliteratur« versteht, weil es geeignet sei, den Weltkrieg aus unterschiedlichen Blickpunkten zu verstehen. Eine Art »Parabel über Krieg und Humanismus«.
In den siebziger Jahren schrieb der schwedische Kritiker Mauritz Edström: »Das kleine Format beinhaltet vorzüglich ein großes Gefühl. Deshalb ist es im höchsten Grade ein Buch, das es wert ist, gekauft und gelesen zu werden.« Heute lässt sich dazu sagen: Recht hat er.
Leo Ågren: Leo Nilheims Geschichte. Übers. v. Erik Gloßmann. Roman. Osburg Verlag. 160 S., geb., 17,99 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.