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Champagner zur Krise
Martin Genahl lässt einen Bankier aus dem Fenster stürzen
Der 25. Oktober 1929, ein Freitag, setzte der scheinbar unaufhaltsamen Gier, der unstillbaren Lust auf immer mehr ein abruptes Ende. Der Dow Jones ist bei 260 Punkten am Boden zerstört und schwemmt die Angst vor dem totalen Ruin nach Europa und auch nach Berlin. Dort spielt die Tanzkapelle Grammofox den Soundtrack zum unaufhaltsamen Untergang einer Gesellschaft, die sich für den schnellen Profit selbst verscherbelt.
Max Gerepolski ist Bassist, verkappter Opernkomponist und scharfer Beobachter seiner Zeit. Die vollkommen geistlosen Chansons (»Es geht die Lou lila«), die er Abend für Abend einem gierigen Publikum zum Fraß vorwirft, zeichnen eine Welt, die unpolitischer, chauvinistischer und zuckerwattiger nicht sein kann.
Gerepolski, moralisierender Ich-Erzähler, hat für seine Umwelt, die er mit der Musik möglichst streifenfrei poliert, höchstens noch Ironie übrig. Die Stadt ist zu einem Moloch vollervergnügungssüchtiger Eskapisten geworden. Und so ist der Roman, der dann zu einem historischen Krimi wird, auch als eine Ode an das Berlin von heute zu verstehen.
Mitten in das Tollhaus platzt der Kurssturz an der New Yorker Börse. Gerepolskis Bruder Bernd, ein windiger Geschäftsmann, der als Antipode zum grübelnden Antikapitalisten Max perfekt funktioniert, stürzt aus dem Fenster. Für die Berliner Polizei ist der Fall klar: Selbstmord aus Furcht vor der eigenen Courage. Bernd Gerepolskis Akte wäre in den Behördenschubladen verschwunden, wären da nicht Max' Zweifel, dass einer wie er, der wie die Olive im Martini am Leben hängt, nie freiwillig gehen würde. So begibt sich Max, samt einer stets betrunkenen Bagage, auf die Suche nach dem Mörder seines Bruders. Mit äußerst unorthodoxen Ermittlungsmethoden verschaffen sie sich Zutritt zum Aktenschrank der Polizei, horchen verdächtige Liebschaften aus und enttarnen am Ende ein Geflecht aus Betrug, Lüge, blindem Gewinnstreben und verletztem Ehrgefühl, bei dem jeder, der mit Bernd Gerepolski zu tun hatte, als Täter infrage kommt.
Der Autor Martin Genahl, Österreicher und selbst Musiker in einer 20er-Jahre-Kombo, skizziert ein Berlin ohne Sinn und Verstand, in einer Phase, nahe am Abgrund, in der aber jeder noch ein Champagnerglas in der Hand hält.
Zum Kriminalroman ist die Erzählung so auch nur nebenbei geworden. Den ersten Toten gibt es nach über der Hälfte des Romans, die Ermittlungsmethoden von Max Gerepolski, der sich selbst für den neuen Sherlock Holmes hält, sind eher bescheiden. Da wird die ein oder andere Recherchepause am Tresen einer Bar verbracht, die maßgebliche Detektivarbeit erledigt die gerade gekündigte Journalistin Sabine und den entscheidenden kriminalistischen Durchbruch erzielt schließlich Barmann »Icke«. An die Autorität der Behörden glaubt in dieser Zeit schon längst niemand mehr.
Martin Genahl: Der Tag, an dem es Kapitalisten regnete. Kriminalroman. Emons Verlag. 176 S., br., 10,90 €.
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