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Stimmen aus dem Tollhaus des Krieges
»Die letzten Tage der Menschheit«, das Mammutdrama von Karl Kraus in einer Neuausgabe
Zehn Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs berichtete Karl Kraus, wie er damals, auf einer Autofahrt in Tirol, die »Begeisterung des Schlachtviehs für seine Metzger« erlebt hatte und wie er von da an »dem Gefühl, das mich mit diesem Vaterlande verband: dem Abscheu, in Wort und Schrift nichts schuldig« blieb. Er hatte eine Menschheit erlebt, »die ihrer Entehrung zujauchzt, ihrer Verarmung, ihrer Hinrichtung, ihrer Verstümmelung«.
Und während der Jubel ringsum nicht enden wollte, kräftig befeuert von »Geistern aller Nationen«, die nicht die Kraft hatten, wie er schrieb, »den Mund zu halten«, zog er, der Wortgewaltige, sich ins Schweigen zurück. Fünfzehn Jahre schon hatte Karl Kraus seine legendäre Zeitschrift »Die Fackel« redigiert und zuletzt, seit 1911, in langen Nächten ganz allein geschrieben, nun verließ er seinen Posten und verstummte.
Später, im Dezember 1915, hat er sein Schweigen mit der Sorge begründet, »den Abscheu gegen das andere Wort, gegen jenes, das die Tat begleitet, sie hervorruft und ihr folgt, gegen den großen Wortmisthaufen der Welt, jetzt nicht zur Geltung bringen zu können und zu dürfen. Und das Schweigen war so laut, daß es fast schon Sprache war.«
Doch es blieb nicht dabei. Nach fünfmonatiger Pause kam die »Fackel« wieder, und zwischen dem 26. und 29. Juli 1915 begann Karl Kraus in seiner Wiener Hochparterrewohnung mit einer Arbeit, die er erst unterbrach, »wenn morgens um 6 Uhr grad vor meinem Fenster die Opfer vorbeimarschieren«.
Es wurde das ungewöhnlichste Werk der Weltliteratur, ein Mammutdrama von achthundert Seiten, ein ausuferndes, alle Normen sprengendes Stück ohne Handlung und festen Personenkreis, überwältigend in seiner Anklage, seinem Witz und Hohn, genannt »Die letzten Tage der Menschheit«. 1919 war die Erstfassung fertig, 1922 erschien die Buchausgabe, die noch einmal um fünfzig Szenen erweitert war. Bis 1936, dem Todesjahr von Karl Kraus, blieb das Drama lieferbar, dann, nach der Besetzung Österreichs durch Hitlers Truppen, ist es offenbar eingestampft worden.
Jetzt, hundert Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, legt der Verlag Jung und Jung in Salzburg und Wien die »Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog« wieder vor, alle achthundert Seiten und nicht bloß die von Kraus eingerichtete, wesentlich kürzere Bühnenfassung, versehen mit einem klugen Nachwort des österreichischen Schriftstellers Franz Schuh. Er betrachtet das Werk, das Leute, die es nicht kennen, für esoterisch halten, mit den Augen des wachen Zeitgenossen, der nicht daran denkt, die mächtige Anklage von einst in die Historie abzuschieben.
»Wer den Karl Kraus liest«, hat Hans Mayer 1986 in einem Vortrag gesagt, »der lebt immer im Heute«. Über zweihundert Szenen gibt es in dieser Tragödie, bevölkert von fünfhundert gefundenen und erfundenen Figuren, und es hätten auch gut und gern hunderttausend Szenen mehr sein können, schrieb Kraus, denn die Wirklichkeit jener Tage bot ihm Material in überreichem Maße. Er musste ja nur zugreifen.
Und er griff zu, musterte die Zeitungen Wort für Wort, die Meldungen von Wolffs Telegraphischem Bureau, die Berichte des Kriegspressequartiers, die Tagesbefehle und Anordnungen, Briefe und Traueranzeigen, die Gespräche auf den Straßen und in den Kneipen, er achtete auf jeden Zungenschlag und holte, was da geschrieben, gesprochen, gehetzt, gelogen, umgedeutet wurde, auf die Bühne seines »Marstheaters«. Alles, was ihm vor Augen und zu Ohren kam, wurde mit minutiöser Gründlichkeit festgehalten: die Befehle der Kriegsherren, die Phrasen der Presse, die Kriegsfeiern der Dichter, das Geplapper der Leute auf den Wiener Plätzen, in den Hotels, in den Kasernen oder auf den Ämtern. Und er zeigte dabei, wie sie sich um Kopf und Kragen reden, verblendet, verloren, betrogen, um den Verstand gebracht.
Ein riesiges Tableau hat Karl Kraus entworfen, bezogen aus dem Tollhaus des Krieges, wo die Militärs das Sagen haben, die Chauvinisten, die Demagogen, die Henker, die Opfer, wo ein Betrunkener, weil er das Wort »Verteidigungskrieg« nicht artikulieren kann, vom heiligen »Verteilungskrieg« faselt, und der ganze Totentanz die geschundene Welt in den Abgrund reißt.
Kraus hat wenig erfunden und unendlich viel zitiert. Dazu hat er sich zwei Figuren geschaffen, den Optimisten und den Nörgler, die das Geschehen im Dialog deuten. Jeder Krieg, meint der Optimist, wird durch einen Frieden beendet. »Dieser nicht«, entgegnet der Nörgler. »Die Welt geht unter, und man wird es nicht wissen. Alles, was gestern war, wird man vergessen haben; was heute ist, nicht sehen; was morgen kommt, nicht fürchten. Man wird vergessen haben, daß man den Krieg verloren, vergessen haben, daß man ihn begonnen, vergessen, daß man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.«
Karl Kraus, der Einzelkämpfer, ein Mann ohne jede Verbindung zu den wenigen, die sich damals, 1914, dem Wahnsinn entgegenstellten, hat uns mit seinem Drama ein Werk hinterlassen, das nicht altern kann. Er wusste, dass man es ungekürzt nie auf einer Bühne sehen wird. Es ist, wie er's vor uns hingestellt hat, ein Stück zum Lesen, grandios und spektakulär in seiner Wucht, seiner Sprachgewalt. Komplett ist es lange nicht erschienen. Jetzt ist es, wie erfreulich, wieder zu haben.
Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten. Hg. u. mit einem Nachw. v. Franz Schuh. Jung und Jung. 799 S., geb., 28 €.
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