Das industrialisierte Morden

Der Erste Weltkrieg trug das seelische Trauma in die Familien

  • Wolfgang Schmidbauer
  • Lesedauer: 7 Min.

Männer, deren Zustand wir heute auf einen nervösen Zusammenbruch durch ein seelisches Trauma zurückführen, wurden bis 1916 standrechtlich wegen Feigheit vor dem Feind erschossen. Erst in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges ließ sich nicht mehr verleugnen, dass viele Menschen in den Gräben wegen seelischer Überlastung nicht mehr kampftüchtig waren, auch wenn sie es sein wollten.

Noch im Krieg begann der Kampf gegen den »Granatenschock« bzw. die »Kriegszitterer«. Als Behandlung war bis 1918 die Elektrotherapie beliebt. Hier wurden den Patienten so schmerzhafte Stromstöße versetzt (es wurde über Todesfälle berichtet), dass viele ihre Symptome zeitweise unterdrückten. Sobald sie an der Front waren, zitterten sie aber wieder. 1919 wurde Prof. Julius Wagner-Jauregg, Leiter der Universitätsnervenklinik in Wien und berühmt durch die Entdeckung der Malaria-Therapie bei Spätsyphilis, wegen brutaler Anwendung der Elektrotherapie angeklagt. Sigmund Freud war als Gutachter geladen. Obwohl er keinen guten Faden an der Elektrotherapie ließ, widersprach er doch einer verbrecherischen Intention im Verhalten seines Kollegen. Damals fiel der Satz von den »Maschinengewehren hinter der Front«.

Zögernd und gegen große Widerstände setzte sich die Erkenntnis durch, dass Menschen nicht so frei in ihrer Wahl zwischen Angst und Tapferkeit sind, wie es sich Feldherrn wünschen. Diese Einsicht war auch im Zweiten Weltkrieg noch längst nicht selbstverständlich.

Es wäre blauäugig, den Militärs jetzt mehr Verständnis für die seelischen Nöte der Soldaten zuzuschreiben. Der Wandel in der Auffassung hing mit den Anforderungen der Waffen zusammen, die den psychisch inkompetent gewordenen Kämpfer nicht nur zu einer Bedrohung für ihn selbst (das hätten die Strategen vermutlich verschmerzt), sondern für seine Umwelt machen.

Ein Soldat mit Karabiner und Spaten ist eher entbehrlich als ein Hubschrauberpilot oder Panzerfahrer. Diese müssen unter Stress seelisch funktionstüchtig bleiben, sonst gefährden sie viele Menschen und verwandeln Material im Wert von Millionen sinnlos in Schrott. So wurden in den modernen Heeren - auch in der Wehrmacht des NS-Regimes - die Psychologen und Psychiater immer wichtiger.

Der Mensch des Mittelalters konnte in einer typischen Schlacht seiner Zeit wenig finden, was er nicht aus seinem Alltag kannte. Er war es gewohnt, dass man blanke Waffen trug und Konflikte gewalttätig austrug. Wer Holz hackte und Gras mähte, handhabte Geräte, die auch als Waffen verwendet werden konnten; er wusste, welches Gewicht sie hatten und wie die Wunden aussahen, die sie schlugen. In einem industrialisierten Krieg waren die Soldaten einem tage-, ja wochenlangen Trommelfeuer ausgesetzt. Sie mussten von Minute zu Minute damit rechnen, von einem Volltreffer getötet oder von einem Beinahe-Treffer in finsteren, nassen, stinkenden und rattenverseuchten Löchern acht Meter unter der Erdoberfläche verschüttet zu werden. Gleichzeitig sollten die Truppen wachsam ausharren, weil sie mit einem Angriff des Feindes zu rechnen hatten, sobald der Artilleriebeschuss nachließ.

Die Reaktion auf extreme Belastungen lässt sich als psychische Zentralisation definieren. Sie tritt ein, wenn über längere Zeit der normale Reizschutz überfordert wird. Die Fantasie- und Gefühlstätigkeit wird eingeschränkt auf das lebensnotwendige Minimum. Das Interesse für alles schwindet, was nicht mit dem physischen Überleben zu tun hat. Vergangenheit und Zukunft sind belanglos geworden. Seelische Strukturen, die im Frieden Empathie und Höflichkeit herstellen, gehen verloren. Die Kriegsheimkehrer können sich vielfach nicht vorstellen, dass ihre Frau oder ihre Kinder verletzt reagieren und sich von ihnen zurückziehen, wenn sie diese mit Grobheiten oder Zynismen behandeln, die unter Kameraden als harmlose Scherze gegolten hätten.

Eine Zentralisation führt dazu, dass die eigene Aggressivität nicht mehr durch langsame und umständliche Mechanismen wie die Einfühlung in die Verletzung des anderen kontrolliert wird. Das Steuer übernehmen die schnellen Affekte, Angst und Wut. Solange der Soldat kämpfen und sich bewegen kann, scheint sich seine psychische Belastung im Rahmen des Erträglichen zu bewegen. Erst wenn er unter Bedingungen von Kälte, Nässe, Hunger, Schmutz, tage- und nächtelange Schlaflosigkeit aushalten soll, werden seine seelischen Reserven ebenso verbraucht wie seine körperlichen.

Als jung verheirateter Zivilist beschrieb Robert Graves 1919 seine seelischen Veränderungen durch das Kriegstrauma: »Mitten in der Nacht schlugen Granaten in mein Bett ein, auch wenn Nancy es mit mir teilte. Am Tag erinnerten mich die Gesichter von Fremden an Freunde, die gefallen waren. Als ich endlich kräftig genug war, auf den Berg hinter Harlech zu steigen und meine Lieblingsplätze wieder aufzusuchen, konnte ich mich nicht dagegen wehren, die Gegend als ein künftiges Schlachtfeld zu sehen. Ich ertappte mich dabei, dass ich … überlegte, wo ein MG aufzustellen wäre, wenn ich von der Hügelkuppe aus die Dolweiddiog-Farm erstürmen wollte und welches die beste Deckung für meine Gewehrgranatenabteilung wäre.« Und weiter: »Ich konnte kein Telefon benutzen, vertrug das Reisen mit der Bahn nicht und konnte nachts nicht schlafen, sobald ich am Tag mehr als zwei neue Gesichter gesehen hatte.« Graves litt noch zehn Jahre lang an regelmäßigen Visionen der Kämpfe seines Regiments.

In den Berichten der Soldaten von der Front wird deutlich, dass nach den ersten Schlachten der Idealismus, das übergeordnete Kriegsziel, das Vaterland auf der Strecke geblieben sind. Politiker, Redner, Dichter, die große Worte über den Krieg machen, werden verachtet. Man hört und spricht nicht mehr von der Verteidigung der Heimat, sondern von dem eigenen, beschränkten gesellschaftlichen Horizont: die Familie, die Kameraden, das Regiment. Persönliche Gefühle sind wie ein Luxus, den sich die wenigsten erlauben. Ihr Wunsch richtet sich darauf, Haltung zu bewahren, »es durchzustehen«, nicht vor den Kameraden zu versagen. Selbst Militärgeistliche reden kaum mehr von Religion.

In den Feldzügen des 15. und 16. Jahrhunderts ergaben sich die Schwerbewaffneten oft früh, um ihre Rüstung und ihr Leben zu schonen; sie wussten, dass sie verlässlich gegen Lösegeld ausgetauscht werden würden. Noch in den napoleonischen Kriegen war es relativ sicher, sich zu ergeben; immerhin sahen sich die Kämpfenden und konnten an den Fahnen und Uniformen erkennen, wen sie vor sich hatten. In den Schlachten der Industriegesellschaft sind Menschen zu Insekten geworden. Es wird vorwiegend aus großer Entfernung getötet. Wenn überhaupt jemand die Explosionshölle überlebte, wurde unter Feuer genommen, wer aus der Deckung herauskam. Es gab wenige Möglichkeiten, weiße Fahnen zu hissen, wenn Soldaten aus einem vom Granatfeuer zerwühlten Unterstand sprangen oder sich aus einem brennenden Fahrzeug befreiten. So wurde das Abschießen von Besatzungen, die aus brennenden Panzern herauskrochen, zur normalen Praxis der Infanteristen des Zweiten Weltkriegs.

Die Schlacht wurde zu einer Erfahrung, die sich immer nachdrücklicher in eine andere Richtung entwickelte als das Alltagsleben. Unser Alltag hat sich zunehmend pazifiziert, während die Rüstungsindustrie die grausamsten Formen der Aggression perfektionierte. Wir führen heute Diskussionen darüber, ob Hühner in engen Käfigen leiden oder Schweine ohne Auslauf gehalten werden dürfen. Parallel dazu werden Waffen eingesetzt, die ganze Provinzen entlauben und vergiften. Es gibt Plastiklandminen, die durch Suchgeräte nicht aufgespürt werden können und einen Meter hochspringen, ehe sie die Eingeweide von Kindern oder Frauen zerfleischen, Splitterbomben, mit gezackten Fragmenten gefüllt, denen gegenüber die berüchtigen Dum-Dum-Geschosse harmlos scheinen, Panzermunition, die das Innere der Tanks mit glutflüssigem Metall oder einem Hagel rasiermesserscharfer Klingen füllt, Napalm, das die Haftkraft von brennendem Benzin an der menschlichen Haut verstärkt.

In den Berichten der Kriegs- und Nachkriegskinder über ihre vom Krieg traumatisierten Väter überwiegt das Bild ausgebrannter, oft alkohol- oder drogenabhängiger Männer, die mit Kindern nichts anfangen können und nur auftauen, wenn sie sich mit Kameraden von einst treffen. Die Ehen sind oft unglücklich; Mütter beklagen sich bei Söhnen oder Töchtern über den verrohten oder nervösen Mann, der so ganz anders ist als der, den sie in Friedenzeiten geheiratet haben.

Die in den Gräben des Ersten Weltkriegs verlorenen seelischen Qualitäten von Empathie und Gerechtigkeitssinn haben die faschistischen und nationalsozialistischen Grausamkeiten wohl erst ermöglicht.

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