Universum ohne Materie
Wie ein neuer Quellenfund belegt, suchte Albert Einstein schon 1931 nach einer Alternative zum Urknall. Doch er verrechnete sich
Nach jahrelanger mühevoller Arbeit war es Albert Einstein 1915 gelungen, die Allgemeine Relativitätstheorie zu vollenden. Und während andere Physiker noch darum rangen, die mathematisch höchst anspruchsvollen Zusammenhänge von Masse, Raumzeit und Gravitation zu verstehen, hatte Einstein bereits die kosmologischen Konsequenzen seiner Theorie im Blick. Dabei ging er wie selbstverständlich davon aus, dass das Universum als Ganzes statisch und damit auf ewig von gleicher Qualität sei. Etwas allerdings beunruhigte ihn: In einem Universum, das in kosmischen Dimensionen ausschließlich von der Gravitation beherrscht wird, müssten im Laufe der Zeit alle darin befindlichen Massen aufeinander zu rasen und letztlich in einem gewaltigen Zusammenstoß verschmelzen. Um einen solchen Fall theoretisch zu vermeiden, entschloss sich Einstein 1917, in seine relativistischen Feldgleichungen einen zusätzlichen Term einzuführen. Diese sogenannte kosmologische Konstante symbolisiert eine Art abstoßende Kraft, die der Gravitation im Großen entgegenwirkt.
Obwohl Einstein die kosmologische Konstante hässlich fand, hielt er sie zunächst für unverzichtbar. Dabei hatte der niederländische Astronom Willem de Sitter bereits 1917 gezeigt, dass aus den Feldgleichungen mit kosmologischer Konstante selbst dann kein statisches Universum folgt, wenn dieses leer ist, also keine Materie enthält. Doch erst 1922 gelang dem russischen Mathematiker Alexander Friedmann der entscheidende Durchbruch in der relativistischen Kosmologie. Die Lösung der Einsteinschen Feldgleichungen führte ihn auf ein dynamisches Universum, das sich zeitlich entweder ausdehnt oder zusammenzieht. Zwar erkannte Einstein nach einigem Zögern an, dass an Friedmanns Berechnungen mathematisch nichts zu beanstanden sei. Physikalisch hingegen hielt er sie für bedeutungslos.
Dennoch ließ Friedmann sich nicht entmutigen und arbeitete weiter wie besessen an seinen Weltmodellen. Dass ihm damit ein genialer Wurf gelungen war, erfuhr er freilich nicht mehr. Bereits 1925 starb er in seiner Heimatstadt Leningrad an den Folgen einer Typhuserkrankung. Er wurde nur 37 Jahre alt.
Zwei Jahre nach Friedmanns Tod und in Unkenntnis von dessen Arbeiten beschrieb der belgische Physiker Georges Lemaître erneut ein expandierendes Universum und verfolgte dessen Entwicklung bis weit zurück in die Vergangenheit. Damit legte Lemaître, der im Zweitberuf als katholischer Priester tätig war, gewissermaßen den Grundstein zur Urknalltheorie. Denn er zog aus seinen Betrachtungen den kühnen Schluss, dass sich das Universum aus einem extrem kompakten »Uratom« heraus entwickelt habe. Einstein blieb jedoch weiterhin skeptisch und ließ erst dann von seinem Modell eines statischen Universums ab, nachdem 1930 dessen unvermeidliche Instabilität nachgewiesen worden war. Für ein dynamisches Universum plädierte zur selben Zeit auch der US-Astronom Edwin Hubble, der am Mount-Wilson-Observatorium in Kalifornien die Fluchtbewegung ferner Galaxien beobachtet hatte.
Zu Beginn des Jahres 1931 reiste Einstein in die USA und erklärte hier gegenüber Journalisten erstmals in aller Offenheit, dass die allgemeine Struktur des Universums nicht statisch sei. In Kalifornien traf er überdies mit Hubble zusammen. Zu einer engeren Beziehung zwischen beiden Forschern scheint es allerdings nicht gekommen zu sein, meint der Zürcher Astronom Harry Nussbaumer, denn in seinem Tagebuch erwähnt Einstein Hubble mit keinem Wort. Im März 1931 kehrte Einstein nach Europa zurück, ohne dass er sich in der Zwischenzeit für ein alternatives nicht-statisches Modell des Universums hätte entscheiden können. In Berlin entwarf er deshalb in Anlehnung an Friedmann ein eigenes dynamisches Weltmodell, das keiner kosmologischen Konstante mehr bedurfte, um zu expandieren. Später soll Einstein die Einführung der kosmologischen Konstante sogar als die »größte Eselei« seines Lebens bezeichnet haben. Einen belastbaren Beleg für diese Äußerung gibt es allerdings nicht.
So oder ähnlich kann man es heute in vielen physikhistorischen Darstellungen lesen. Doch stimmt es auch? Der irische Physiker Cormac O'Raifeartaigh und seine Kollegen sind da im Zweifel. Sie vermuten, dass die so erzählte Geschichte zumindest unvollständig ist. Denn im Einstein-Archiv der Hebräischen Universität in Jerusalem sind die Wissenschaftler auf ein bislang unbekanntes Manuskript gestoßen, in dem Einstein ein expandierendes Universum mit konstanter Dichte behandelt und dabei einen Ansatz verfolgt, der fast schon abenteuerlich anmutet: »Betrachtet man ein durch physische Maßstäbe begrenztes Volumen, so wandern unausgesetzt materielle Teilchen aus demselben hinaus. Damit die Dichte konstant bleibe, müssen immer neue Massenteilchen in dem Volumen aus dem Raume entstehen.« Das heißt im Klartext: Einstein verknüpfte das Postulat eines dynamischen Universums ohne Anfang und Ende mit der Forderung nach einer permanenten Neuschöpfung von Materie. Wie man annehmen darf, war ihm bei dieser gleichsam religiösen Abschweifung selbst nicht wohl. Auch Nussbaumer hält das ganze Modell für einen »Schnellschuss«, der rasch verpuffte. Denn bei der Aufstellung seiner Gleichungen hatte Einstein einen Rechenfehler begangen, den er schon nach wenigen Tagen korrigierte. Dann legte er das vierseitige Manuskript für immer zu den Akten, offenkundig weil ihm klar geworden war, dass die korrekten Gleichungen zu einem leeren Universum führen. (arxiv.org/abs/1402.0132)
Für die Niederschrift seines außergewöhnlichen Manuskripts hatte Einstein amerikanisches Briefpapier benutzt. Nussbaumer vermutet daher, dass Einstein die darin enthaltenen Berechnungen noch während seiner USA-Reise im Januar 1931 anstellte. Das würde auch zu einigen Einträgen in dessen Tagebuch passen. Eine Frage indes bleibt: Warum wurde das Manuskript erst jetzt entdeckt? Immerhin ist es im Einstein-Archiv schon seit langem für Benutzer frei zugänglich. Des Rätsels Lösung liegt vermutlich im Titel. Er lautet »Zum kosmologischen Problem« und scheint selbst Experten zu der Annahme verleitet zu haben, dass der Text lediglich ein Entwurf eines Aufsatzes sei, den Einstein 1931 unter dem Titel »Zum kosmologischen Problem der allgemeinen Relativitätstheorie« publiziert hatte. Und da sich augenscheinlich niemand die Zeit nahm, die vier Seiten gründlich zu studieren, blieb es O'Raifeartaigh und Nussbaumer vorbehalten, den Irrtum aufzuklären. (arxiv.org/abs/ 1402.4099v2)
Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. 1948 präsentierten die Astrophysiker Hermann Bondi, Thomas Gold und Fred Hoyle das sogenannte Steady-State-Modell des Universums. Auch darin bleibt trotz fortgesetzter Expansion die Dichte konstant, was ähnlich wie bei Einstein eine permanente Materieschöpfung aus dem »leeren Raum« voraussetzt. Natürlich spiele sich ein solcher Prozess nicht in kosmischen Dimensionen ab, beschwichtigte Hoyle seine Kritiker. Um die Dichteverluste durch die Expansion des Universums auszugleichen, reiche es vielmehr aus, wenn pro Jahrhundert ein Atom in einem Raum von der Größe des Empire State Buildings neu erschaffen werde.
Man mag heute vielleicht darüber staunen. Aber in den 1950er Jahren fand dieses kosmologische Schöpfungsmodell zahlreiche Anhänger. Anlass dafür waren einige astronomische Beobachtungen, die im krassen Widerspruch zum Urknallmodell standen. Zum Beispiel schien es damals so, als sei das Universum jünger als die Sterne, die es enthält. 1959 fragte der »Science News Letter« über 30 prominente Astronomen nach ihrem Standpunkt. Elf votierten für den Urknall, immerhin acht für Steady State. Die restlichen Experten wollten sich nicht festlegen. Die Entscheidung im Streit um das richtige Weltmodell fiel 1965 mit der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung, die laut Stephen Hawking dem Steady-State-Konzept den Todesstoß versetzte. Seitdem ist das Urknallmodell in der Astrophysik ohne Konkurrenz.
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