Entfremdete Menschen
Paul-Heinz Dittrichs »Die Blinden« und »Die Verwandlung« in der »Werkstatt« der Berliner Staatsoper
Friedrichs Goldmanns »Hot« nach Lenz und Reiner Bredemeyers »Neinsager« nach Brecht kamen schon auf der »Werkstatt«-Bühne der Staatsoper. Nun meldete sich Paul-Heinz Dittrich zurück. Alle drei haben dem Kammermusiktheater Schubkräfte verliehen. Hinterm Eisernen Vorhang unter den Augen böser Zensoren?
Das ist die Optik von der Siegessäule aus, zu lesen in Ankündigungen. Deren Autoren begreifen leider immer noch nicht, dass Maler, Dichter, Komponisten aus dem Osten schlicht ihre Arbeit gemacht haben. Häufig die bessere. Und dass in den achtziger Jahren jene Querulanten in den oberen Etagen kaum mehr wagten, das Maul aufzumachen. Die vorstoßende Moderne war durchgesetzt. Dank der Lernfähigkeit und Versiertheit einer steigenden Zahl interessierter Musiker. Dank solch Unermüdlicher wie Christfried Schmidt, Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich, Friedrich Schenker, Reiner Bredemeyer, Ruth Zechlin, Hermann Keller, in der Zeit davor Hanns Eisler, Paul Dessau, Rudolf Wagner-Regeny, Johann Cilensek, Günter Kochan und andere wie deren Unterstützer in den Institutionen und Parteien. All jene haben irgend je was riskiert, sie haben nicht locker gelassen, wiederholt Rückschläge erlitten und trotzdem auf jeweiliger Stufe durchgekämpft, was es notwendig durchzukämpfen galt. Wer Neues will, dem sitzt das störende Alte auf den Versen, und es gibt zwangsläufig Gerangel. Werde doch dies einmal begriffen.
Paul-Heinz Dittrich meldete sich sehr vernehmlich zurück. Der Abend mit den Premieren »Die Blinden« nach Maeterlinck (Kammermusik VII für fünf Sprecher, Bläserquintett und Cembalo) und »Die Verwandlung« nach Kafka (»Käfig-Musik« für Acteur, Sprecher, Vokalisten, Violine, Bassklarinette und Violoncello) wurde ein toller Erfolg. Minutenlanger Beifall. Außerordentliche Leistungen der Interpreten. Die Regie hervorragend. Ein Raum, so originell ausgestaltet, dass es eine Lust war, den Spielenden darin zuzuschauen und zu lauschen. Paul-Heinz Dittrich, der große alte Meister der Neuen Musik, nahm den Erfolg dankbar entgegen.
Beide Werke, sie kamen bisher lediglich konzertant, hier erstmalig als Bühnenstücke, schuf der Komponist in den achtziger Jahren. »Die Blinden« wurde im Berliner Ensemble 1986 uraufgeführt, »Die Verwandlung« im französischen Metz 1983 und ein Jahr später in der Akademie der Künste der DDR wiederholt. Wer die beiden DDR-Premieren erlebt hat, dürfte sich der klirrenden Spannung erinnern, welche die Aufführungen begleitet hat. Beide Stücke problematisieren, ja sezieren menschliche Problemlagen, winden sich spiralförmig hinein in Entfremdungsprozesse zwischen Menschen. Und es gibt keine Lösungen. Derlei spiegelte eine Situation, sichtbare wie unsichtbare Bedrückungen, bestehend - wenn auch ungleich verteilt - in West wie Ost.
Dittrich hatte Glück mit Regisseur Thomas Goerge, inzwischen international renommiert, mit den Spielern und Sängern (teils hinzugezogen) von Staatskapelle und Sängerinnenensemble ohnehin. Goerge schuf auch die Bühne und die Kostüme. Der Raum ist voller Bemalungen. Nicht der schmutzigsten, wohl aber der kunstvollsten Art. An der Decke Spiegel. Hebt der Kopf steil hoch, sieht er die sitzenden, liegenden, hockenden Zuschauer. Auch den wandelnden, suchenden schwarzen Mann oder den Cembalisten Frank Gutschmidt in der Mitte, während er spielt.
Der Dreh: Goerge bringt beide Werke ins eins. Fragen die Blinden auf der einsamen Insel unentwegt danach, wo sie sind und wer sie sind, während sie die Rückkehr ihres Führers erwarten, so ist dies Element der Träume Gregor Samsas, der Hauptfigur in Kafkas »Verwandlung«. Den ersten Teil beenden die Musiker, indem sie ihre Noten irgendwo ablegen und den nächsten Spielern Platz machen. Mit allem, was der Raum hat, dem sich drehenden Knabenzimmer, der Musikerbank mit Plüsch, den kostümierten Sängern und Sprechern, der Stehlampe aus Omas Zeiten, dem an die Decke geklebten Frühstückstisch, der Kolonne der Bildschirme, dem Bildschirm in der Nische, worauf Insekten flimmern, den einfühlsamen Lichtgestaltungen, mit all dem fügt sich mit der so fein gesponnenen wie in Extreme gehenden Musik im Mittelpunkt ein sinnfälliges Kunstwerk zusammen. Dass den Sohn Gregor ein Schwarzafrikaner gibt, dessen Lippen, während er seine Nöte ins Mikro spricht, der Bildschirm vergrößert, weist besonders eindrücklich in die Bedrückungen der Jetztwelt.
Unschätzbar die Fähigkeit des Komponisten, jene aus Dichtung gewonnenen, schwerlich greifbaren und doch realen Entfremdungssituationen aufgespürt und musikalisch aufs Subtilste poetisiert zu haben. Derartige Werke und einige mehr aus seiner Feder sind nicht abgegolten. Sie gehören mindestens solange beachtet und gespielt, solange jene individuell-gesellschaftlichen Bedrückungen den Lebensprozess dominieren.
Nächste Vorstellungen: 2., 4., 5., 9. und 11.4. www.staatsoper-berlin.de
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