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Der Coup des Marek Kriger
Wie die ökonomischen Manuskripte von Karl Marx nach Moskau kamen
Das hat schon die Brisanz eines Politkrimis, der Stoff fürs Fernsehen gäbe. Hauptakteur ist ein Dr. Marek Kriger. Anfang des Jahres 1935 bietet der damals in Wien wohnende Jurist und Journalist dem Marx-Engels-Lenin-Institut (IMEL) in Moskau Handschriften aus dem Nachlass von Karl Marx und Friedrich Engels an, die sich im Archiv der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands befanden. Eine »Urkunde« bezeugt, dass er die Papiere an den ersten Sekretär der sowjetischen Vertretung in Wien, Jakow Podolski, übergab und jener die Schriftstücke ans IMEL weitergeleitet hat. Mit der Zeit wechseln Hefte, ökonomische Manuskripte und viele andere Autographe den Besitzer.
Anfangs waren die sowjetischen Unterhändler skeptisch. Sie wussten nicht, wer Kriger ist, ob man ihm trauen kann, ob es sich wirklich um Originalschriften handelt. Jener versuchte seine Glaubwürdigkeit zu beweisen mittels eines Briefes von Friedrich Adler, Sekretär der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, und einer »Nachträglichen Bestätigung«, aus der hervorgeht, dass er im Archiv der SPD den Nachlass von Marx und Engels »mit grossem Arbeitsaufwand« geordnet und »als Entgelt« Manuskripte von Marx und Engels sowie Moses Hess bekommen habe. Im Laufe der Verhandlungen überzeugten sich die sowjetischen Genossen, dass Kriger ein »ehrlicher Mensch« ist, wie ein Diplomat nach Moskau schrieb.
Dem einstigen Marx-Editor Jürgen Rojan gelingt es, anhand einer feinfühligen Analyse der Indizien, die sich aus Brief- und Dokumentenformulierungen ergeben, die Hintergründe dieser heiklen, unter strengster Geheimhaltung vollzogene Transaktion aufzuhellen. Was der Autor nicht ausführt, aber mitgedacht werden muss: Der Exilvorstand der SPD war damals in großer Not, brauchte Geld, um weiter wirken zu können. Seit 1934 gab es Überlegungen, das Archiv an eine skandinavische Partei zu verkaufen. Andererseits zeigte sich Moskau höchst interessiert. Zunächst bot das IMEL an, den Nachlass zu »verwahren«. Dann wurde in Paris über einen Ankauf verhandelt. Im August 1936 scheiterte der Coup. Stalin berief Bucharin zurück, der angeblich Kompetenzen überschritten habe. Daraufhin wurde der in versiegelten Güterwagen nach Paris geschmuggelte Teil des Archivs dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam anvertraut.
Der hartnäckig kolportierte Verdacht, Kriger habe sich die Manuskripte unredlich angeeignet, wird sowohl durch die Dokumentation von (der 2004 verstorbenen) Larisa Miskewitsch, als auch durch ein von Rojan im IISG aufgefundenes Schriftstück ausgeräumt, einer »Bestätigung«, dass die Manuskripte »rechtmäßig erworben« seien. Bleibt die Frage: Wie konnte der SPD-Archivar Jonny Hinrichsen so wertvolle Schriften einem Privatmann übereignen? Zum einen galt Kriger als Vertrauensperson. Er hatte den Nachlass, der seinerzeit noch dalag »wie die Kisten ausgepackt worden sind« (Emilie Motteler), sortiert und gelistet, was Hinrichsen sehr entgegenkam. Zudem hatte er dem Vorstand »namhafte Zuwendungen und zwar im Interesse des Parteiarchivs« überlassen. Zum anderen dürfte die damalige Einschätzung der Schriften entscheidend gewesen sein: Es handele sich um »zumeist in anderer Fassung zurückgebliebene«, ergo entbehrliche.
Kriger sammelte Sozialistica und arbeitete intensiv damit. Er hatte sich der Internationale angenähert, verfasste Artikel für sozialistische Zeitungen und schrieb an einem sozialwissenschaftlichem Buch (das nicht überliefert ist). Aber warum wollte er diesen Schatz ans IMEL verkaufen? Ums Geld ging es ihm nicht; Kriger war begütert. Doch er hatte keinen Zugriff auf sein Vermögen in Berlin, brauchte eine gewisse Summe für emigrationsbedingte Aufwendungungen. Und er war zutiefst überzeugt, dass die Manuskripte »vom geistigen Gesichtspunkt« nach Moskau gehören, wie er dem Schatzmeister der SPD, Siegmund Crummenerl, schrieb. Mit dessen Billigung trieb er die Verhandlungen in Wien voran. Kriger habe die Manuskripte mit zitternder Hand übergeben, erinnerte sich Iwan Lorenz von der sowjetischen Vertretung in Wien.
Inzwischen waren Teile des SPD-Archivs mit Booten über die Ostsee nach Dänemark verbracht worden. Als in Kopenhagen der Eingang der Materialien überprüft wurde, fehlten allerdings die erwähnten 23 Hefte von Marx. Es könnte so gewesen sein, schreibt Rojahn, dass Kriger die Erlaubnis, Manuskripte an sich zu nehmen, weil sie bei ihm vor dem Zugriff der Nazis relativ sicher waren, »einen weit extensiveren Gebrauch machte, als angenommen wurde«.
Marx-Engels-Jahrbuch. Akademie Verlag, Berlin 2014. 329 S., geb., 59,90 €.
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