Großvater war Kommunist
Was die Wuppertalerin Barbara Simoleit lange Zeit nicht jedem erzählte
Wie gehen Kinder und Enkel von Nazigrößen mit der Schuld ihrer Eltern oder Großeltern um? Sie sind in den vergangenen Jahren gern dazu befragt worden oder haben sich selbst zu Wort gemeldet. Vom Hass auf die Erzeuger über das Leugnen von Schuld bis zur Beschwörung «lieber» Väter waren jede Geisteshaltung und psychische Gestimmtheit vertreten. Interessanter ist freilich die Frage, wie die bundesdeutsche Gesellschaft mit jenen Offenbarungen umgeht. Erstaunlich leidenschaftslos, wenn man vom Phänomen «Hitler sells» und dem ihm innewohnenden Voyeurismus absieht.
Weit weniger interessiert zeigt sich die republikanische Öffentlichkeit an den Kindern und Enkeln von Kommunisten. Wie gehen die mit dem Schicksal ihrer Eltern und Großeltern um? Und wie ist das gesellschaftliche Feedback? Barbara Simoleit sagt: «Dass meine Eltern und Großeltern Kommunisten waren, wissen nur Freunde, Verwandte und enge Bekannte. Ich erzähle es nicht jedem.» Barbara Simoleit hat dafür Gründe. Dass sie es nun via «nd» dennoch quasi jedem erzählt, liegt daran, dass sie vor gut zwei Jahren auf die Arbeitsgruppe «Kinder des Widerstands» der VVN-BdA in Nordrhein-Westfalen stieß, sich dort mit ihrer Geschichte gut aufgehoben fühlt und helfen will, die Gruppe bekannter zu machen. Gegründet wurde jene Gruppe im Jahr 2011 von vier Frauen, allesamt Töchter von Widerstandskämpfern und -kämpferinnen: Alice Czyborra, geborene Gingold; Traute Sander, geborene Burmester; Inge Trambowsky, geborene Kutz; und Klara Tuchscherer, geborene Schabrod. Ihr Anliegen ist es nach eigenen Worten, dem antifaschistischen Kampf ein Gesicht zu geben, zu zeigen, was Widerstand, Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Terror für den Einzelnen und dessen Familien bedeuten. Vor und nach 1945.
Was ist die Geschichte der Barbara Simoleit? Seit dem Tod ihrer Mutter Hildegard 2010 fängt sie an, es genauer herauszufinden. Denn im Nachlass befanden sich Briefe von und an ihren Großvater Albert Lange, den sie, die 1956 Geborene, selbst nicht mehr kennenlernen durfte. Für diese Briefe trug sie nun plötzlich die Verantwortung, sie begann, sich zu vertiefen - und wurde zunehmend neugieriger. Was wusste sie eigentlich über den Großvater? Ja, Erzählungen über ihn, die hatte sie oft gehört, die machten in der Familie die Runde. Zum Beispiel, wie er mit seinem Schwager von einer Motorradtour heimgekehrt und kühn durch die Einfahrt gebrettert war - «Albert» sei schon auf dem Hof gewesen, als der Beiwagen noch vor dem Tor stand. Ein Haudegen? «Er war eine Respektsperson in der Familie», erinnert sich Barbara Simoleit. «Alle sprachen gut von ihm.» Aber warum?
Barbara Simoleit versucht, Ordnung in ihre Erinnerungen zu bringen. Da ist ein 1952 mit der Schreibmaschine getippter Lebenslauf ihres Großvaters, zumindest Daten kann ihm Barbara Simoleit entnehmen: Jahrgang 1901, Besuch der Volksschule. Schon nach der Entlassung aus der Schule Eintritt in die sozialistische Arbeiterbewegung. Zunächst Hilfs-, dann Bergarbeiter. 1917 USPD-Mitglied und Mitbegründer der Sozialistischen Proletarierjugend. Während des Kapp-Putsches 1920 in den Reihen der kämpfenden Ruhrarbeiter. KPD-Mitglied seit der Verschmelzung von USPD und KPD. In Wuppertal Lokalredakteur der «Roten Tribüne». Berufung zum Agitprop-Sekretär ins Sekretariat der KPD-Bezirksleitung. Berlin-Brandenburg. Politischer Redakteur der «Roten Fahne, dem KPD-Zentralorgan. Festnahme im Oktober 1933, Vernehmungen in der Gestapo-Zentrale in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße, 1934 Verurteilung zu zweieinhalb Jahren. Haft im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Anfang 1943 Strafbataillon 999, bis zum Kriegsende stationiert auf der Insel Rhodos. 1945 Kriegsgefangenschaft und Verschickung nach Ägypten, weiterhin antifaschistische Arbeit. Im September desselben Jahres Überführung nach Großbritannien, Absolvierung eines Lehrgangs an der Kriegsgefangenenschule »Wilton Park«, Ende 1946 Entlassung nach Deutschland.
Strafbataillon 999? Barbara Simoleit sammelt Material. Im Strafbataillon 999 mussten seit 1942 sogenannte Wehrunwürdige dienen, Menschen also, die zu einer Zuchthausstrafe oder militärgerichtlich verurteilt worden waren. Die Mehrzahl von ihnen sind politisch Oppositionelle gewesen - Kommunisten, Sozialdemokraten, Geistliche und Zeugen Jehovas. Prisoners-University »Wilton Park?« Das britische Umerziehungslager war auf Initiative von Winston Churchill in Buckinghamshire bei Beaconsfield gegründet worden. Nach wissenschaftlich anspruchsvollen Kursen sollten die Absolventen als überzeugte Demokraten in ihre Heimat zurückkehren, um dort als Multiplikatoren zu wirken. Dort also hatte ihr Großvater akademische Bildung erwerben dürfen. Seit 1947 hatten auch Deutsche aus der britischen Besatzungszone, darunter Ralf Dahrendorf und Wolfgang Abendroth, an den Lehrgängen teilgenommen, die in Deutschland als Referenz gelten sollten.
Und wohl auch galten. Auch dies eine Szene, die das Familiengedächtnis bewahrt: Nach dem Krieg, 1946, wollte ihn ein Herr mit einem Präsentkorb als Journalist für die Zeitung »Die Welt« werben. Dienstfahrzeug und -wohnung wurden in Aussicht gestellt, ihre Mutter sah sich bereits in einer schicken Villa wohnen. Der Großvater hat abgelehnt - »er hatte Prinzipien und stand zu ihnen«. Die Präsente habe der Herr daraufhin wieder mitgenommen. Albert Lange sei es wichtiger gewesen, wieder als politischer Redakteur beim KPD-Zen- tralorgan, das nun »Freies Volk« hieß, zu arbeiten.
Es war die Zeit der halbherzigen Entnazifizierung. In der Bundesrepublik kamen Altnazis als Richter, Staatsanwälte oder Minister schnell wieder zu Amt und Würden. Albert Lange hat noch erleben müssen, wie Verfolgte des Naziregimes, die Widerstand geleistet hatten, erneut Diffamierungen und Repression ausgesetzt waren - so war VVN-Mitgliedern ab dem 19. September 1950 die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst untersagt. Das KPD-Verbot hat er nicht mehr mitbekommen, denn schon 1954, während eines Urlaubs in Marseille, ist er nach einem Schlaganfall 53-jährig gestorben. Die Enkelin hat einen Nachruf gefunden, illustriert mit einem Foto, das zeigt, wie französische Genossen dem Sarg das Geleit zum Zug gaben, der ihn nach Deutschland überführte. Warum waren es so viele? Welche Verbindungen hatte Großvater »Albert« nach Frankreich? Ein Rätsel, das sie noch lösen möchte.
Auch ein Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 27. Januar 1965 liegt Barbara Simoleit vor. Er betrifft ihre zu diesem Zeitpunkt bereits verwitwete Großmutter Else Lange. Folgendes ist dem Beschluss zu entnehmen: Als am Morgen des 11. August 1964 das Zimmer ihres Schwiegersohns Gerd Simoleit, das er bei ihr bewohnte, »wegen Verdachts der Staatsgefährdung« durchsucht werden sollte und die Kriminal-Obermeister Schmitz und Urmarsbach die Durchsuchung vornehmen wollten, sagte Oma Else zu ihnen: »Mein Schwiegersohn ist nicht da, hier kommen sie nicht rein.« Als sie die Tür zuschlagen wollte, stellte Schmitz seinen Fuß hinein, worauf die Großmutter das Haus zusammenschrie: »Hilfe, Hilfe, Einbrecher!« Während der Durchsuchung schimpfte sie: »Das sind die gleichen Methoden wie damals bei der Gestapo, das kennen wir ja.« Und an ihre sechsjährige Enkelin, Barbara Simoleit, gewandt: »Das sind die bösen Männer, von denen ich dir erzählt habe.« Oma Else war wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Beamtenbeleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Wochen auf Bewährung und einer Geldstrafe von 120 D-Mark verurteilt worden.
Wie nun sollte Oma Elses Schwiegersohn und Barbara Simoleits Vater Gerd die Bundesrepublik Deutschland gefährdet haben? Gerd Simoleit war Funktionär der Freien Deutschen Jugend in Westdeutschland, die in Nordrhein-Westfalen bereits im April 1951 als »verfassungsfeindliche Organisation« verboten worden war. Am 3. August 1954 waren er und einige seiner Genossen angeklagt worden, »die Bestrebungen einer Vereinigung - der Freien Deutschen Jugend - ... als Rädelsführer gefördert zu haben«. Das Urteil war am 12. März 1957 gesprochen worden, in der DDR berichtete das Zentralorgan des Zentralkomitees der SED »Neues Deutschland« am Tag darauf: »Zu insgesamt 33 Monaten Gefängnis wurden am Dienstagmittag fünf junge Wuppertaler Arbeiter in einem Gesinnungsprozeß vor der Politischen Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts verurteilt. Die Sonderkammer sprach die fünf Angeklagten Rolf Krane, Robert Merten, Gerd Simoleit, Wilfried Maluchnik und Erich Herkenrath der ›Staatsgefährdung, Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation, der Geheimbündelei und der Verbreitung illegaler Schriften‹ mit antimilitaristischem Charakter schuldig, weil sie den Kampf der FDJ gegen den Kriegskurs der Adenauer-Regierung unterstützt hatten. Im einzelnen wurden Rolf Krane zu acht Monaten Gefängnis, Robert Merten zu sieben Monaten Gefängnis und die drei übrigen jungen Patrioten zu jeweils sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Im Verlauf des Gesinnungsprozesses bekannten sich die fünf jungen Arbeiter mutig zu ihrem Kampf gegen den Militarismus. Sie erklärten, daß sie die politischen Auffassungen, die zu ihrer Mitarbeit in der FDJ führten, heute für richtiger denn je halten.«
Kalter Krieg, Kampf der Systeme. Aus heutiger Sicht erscheint der Gedanke geradezu absurd, FDJ und KPD hätten die Bundesrepublik gefährden können - eine gesellschaftliche Mehrheit im Wirtschaftswunderland hätten sie kaum gefunden. Während die alten, diktaturgestählten Eliten nicht als Gefahr empfunden wurden, hat Barbara Simoleit in ihrer Jugend eine tiefverwurzelte Angst, ja Abwehr alles Kommunistischen erlebt. »Es hieß immer, wir Kinder und Enkel von antifaschistischen Widerstandskämpfern seien indoktriniert worden. Das unterstellte ideologische Verbohrtheit. So war es nicht«, sagt Barbara Simoleit, die die Ideale und Werte ihrer Großeltern und Eltern teilt. »Sie wollten ein friedliches Deutschland und soziale Gerechtigkeit. Diese Werte haben sie vorgelebt, sind offen und nicht dogmatisch gewesen. Als Kind war ich mit meinen Eltern in Helsinki bei den Weltfestspielen der Jugend. Das ist wunderschön gewesen.«
Ordnung in ihre Erinnerungen bringen - zu diesem Zwecke suchen die Mitglieder der Gruppe »Kinder des Widerstands« nach ihnen noch unbekannten Spuren in Archiven, sammeln Dokumente, schreiben Lebensläufe. Viele von ihnen gehen zu Schulklassen, um dort über ihre Großeltern oder Eltern und deren Widerstand in der NS-Zeit zu berichten. Über die Nazizeit überhaupt, denn was Terror bedeutet, können sich junge Menschen heute nicht mehr vorstellen. Barbara Simoleit hat noch nicht vor Schulklassen gesprochen; sie ist ja noch berufstätig und aktiv in der Gewerkschaft. Doch sie erzählt ihre Geschichte jetzt hier, weil sie helfen möchte, die Gruppe bekannter zu machen. Es wäre schön, sagt sie, wenn noch viel mehr Kinder, Enkel, Nichten, Neffen von Widerstandskämpfern den Weg zur Gruppe fänden. Eigentlich möchte sie jeden ermutigen, sich mit seiner persönlichen Herkunft, seiner Geschichte zu beschäftigen - egal, ob die Vorfahren nun im Widerstand, Mitläufer oder Nazis gewesen sind. Gerade in den letzten Wochen, in denen deutsche Politiker »Härte gegen Russland« fordern, wünschte sie sich hierzulande mehr Geschichtsbewusstsein. »Für Senioren«, sagt Barbara Simoleit, »gibt es bei uns in Wuppertal nicht gerade wenig Angebote - Sport, Ausflüge, Kaffeetrinken. Ich fände es gut, wenn sich ältere Leute auch noch mit anderem beschäftigen würden. Politische Angebote sucht man vergebens.«
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