Die Giraffe unterm Apfelbaum

Jan Costin Wagner und sein Kommissar aus Turku

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Es handelt sich nicht um eine entlaufene Giraffe aus dem Zoo, diese hier ist klein und es hängt ein Schlüssel dran. Damit eine Frau, die sozusagen tatsächlich entlaufen ist bzw. immer wieder entschwindet, ohne Mühe zu Kimmo Joentaa ins Haus gelangt. Er wartet drauf und lässt das Licht brennen, bevor er geht. Ist es gelöscht, dann heißt das: Sie ist da. Larissa nennt sie sich schon seit dem Roman »Der Winter des Löwen« - eine Prostituierte ist sie, in die sich der Kriminalkommissar aus Turku verliebt hat. Sie kommt und geht, wie sie will - und diesmal ...

Wieder ist es der Schnee, in den Jan Costin Wagner das Geschehen einhüllt. Mit dem letzten finnischen Schnee am 1. Mai beginnt es. Da kommt ein Auto von der Fahrbahn ab. Und es endet mit dem ersten Schnee im September. Kurz zuvor hatte es wieder einen Autounfall gegeben. Derselbe Mann wurde verletzt. Aber in dem Wagen, mit dem er kollidierte, waren zwei junge Leute, Bruder und Schwester, tot - und hatten eine ziemliche Menge Waffen und Munition im Kofferraum ... Die Identität der Frau wird sich noch enthüllen. Wir werden staunen ...

Wie viele Leichen hat Jan Costin Wagner da vor uns hingelegt - sechs. Eine weniger und es wären womöglich Hunderte geworden. Aber der Autor geht damit etwas anders um, als es in Krimis üblich ist. Zum Genre gehört, dass ein Mord zu einer Art Denkaufgabe wird. Die Frage nach dem Täter beherrscht alles. Von Berufs wegen muss es auch für Kimmo Joentaa so sein, aber weil er selbst schon gespürt hat, wie die Tod sich anfühlt, unterscheidet er sich von seinen Kollegen. Seit Jan Costin Wagners erstem Roman »Eismond« wissen wir: Kimmo hat seine Frau Sanna verloren. Darüber kommt er nicht hinweg, niemand im Buch kann mit dem Tod seinen Frieden schließen.

»Es war genau dieser Schmerz« - auch wenn er von außen jeweils anders aussieht - dieser Schmerz, um den es im Buch geht. Dieser Schmerz, der dem Leben eine eigene Bewegung gibt: auftauchen, zurückfallen. Menschen im Wellengang.

Und die anderen - wie großartig ist es hier beschrieben - können sich das nicht vorstellen. Hilflos fühlen sie sich, wenn sie von dem Schrecklichen erfahren. Helfen wollen sie. Aber wie? Eine »hochspannende und äußerst intensive Elegie auf den Tod« sei das Buch, sagt der Verlag. »Und eine zärtliche Feier des Lebens.« Da muss aber nun doch hinzugefügt werden, wie äußerst geschickt der Autor die Fäden der Krimihandlung miteinander verknüpft hat. Wie so verschiedene Todesfälle miteinander zusammenhängen können, hätte man sich nicht vorstellen können. Vieles ist Zufall - Fügung? - und das am meisten Verwunderliche: Den oder die Bösen gibt es nicht.

Und also gibt es auch keine Bestrafung, die uns aufatmen lassen könnte, weil Gerechtigkeit nun hergestellt wäre. Es ist ein Geflecht von Ursache und Wirkung, das sich weit zurückverfolgen lässt - bis zu einem Luftballon, den ein Vater seinem Sohn mutwillig zerstört.

Aber das kann, darf doch nicht alles zwangsläufig sein, sagt man sich und hätte Recht damit. Nur manchmal geschieht es so, während sich anderswo ein Mensch aus seinem Unglück erhebt, geläutert, begütigt. - Und die Giraffe liegt weiter unterm Apfelbaum.

Jan Costin Wagner: Tage des letzten Schnees. Ein Kimmo-Joentaa-Roman. Galiani Berlin. 314 S., geb., 19,99 €. Gleichnamiges Hörbuch bei Argon: 19,95 €.

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