Schlechte Noten für die Grande Nation

Große Ungleichheiten charakterisieren das französische Bildungssystem

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 4 Min.

In diesen Wochen müssen sich die Gymnasiasten, die 2016 ihr Baccalauréat, das französische Abitur, ablegen werden, hinsichtlich ihrer Wünsche für den weiteren Ausbildungsweg entscheiden. Zwei Drittel werden ein Hochschulstudium beginnen, das fast schon zum Standard gehört, wenngleich es dadurch gleichzeitig entwertet wird. Zudem fühlen sich die meisten Studenten bald überfordert und brechen nach dem Grundstudium ab. Aber heute bekommt beispielsweise niemand einen Job als Sekretärin oder einfacher Sachbearbeiter, wenn er nicht mindestens ein »Bac + 2« erreicht hat, also Abitur plus zwei Jahre Studium nachweisen kann. Mit einem gewöhnlichen Universitätsdiplom in der Tasche kann andererseits niemand auf eine höhere Laufbahn hoffen. Dafür muss man eine der zwei Dutzend »Elite-Hochschulen« besucht haben, doch um deren extrem schwere Aufnahmeprüfung zu bestehen, muss man nach dem Abitur noch zwei Jahre in einer »Vorbereitungsklasse« büffeln, zu der man nur nach einer strengen Prüfung zugelassen wird.

Am unteren Rand des gesellschaftlichen Ansehens rangiert körperliche Arbeit, die oft schon als Strafe angesehen wird. Eine Berufsausbildung im Betrieb gibt es in Frankreich fast nicht, sondern nur in berufsbildenden Gymnasien, die man mit einem »Bac pro« abschließt. Doch dieser Weg wird als drittklassige Ausbildung angesehen, die vor allem für Jugendliche aus sozialen Problemvierteln bestimmt ist.

Als der sozialistische Präsident François Mitterrand 1981 das Ziel verkündete, dass 80 Prozent eines Schülerjahrgangs das Abitur ablegen und damit die Hochschulreife erlangen sollen, war das sicher gut gemeint, doch das Ergebnis ist ernüchternd. Davon zeugte die jüngste PISA-Studie der OECD, deren Ergebnisse Ende 2013 veröffentlicht wurden und bei der die »Grande Nation« auf blamablen Plätzen landete. Doch fast noch schlimmer ist für die französische Öffentlichkeit, dass sich die Positionen seit der ersten PISA-Studie sämtlich verschlechtert haben. Lag Frankreich 2003 bei den Naturwissenschaften auf dem 13. Rang, so war es 2012 der 26., bei Mathematik fiel das Land vom 16. auf den 25. Platz zurück und beim verstehenden Lesen vom 17. auf den 21. Platz.

Darüber hinaus verweist die Studie auf zahlreiche Schwachstellen. So gehört Frankreich zu den Ländern mit der schlechtesten Disziplin an den Schulen. Es mangelt an Konzentration und Aufmerksamkeit und jeder zweite Schüler klagt darüber, dass ihn Unruhe oder Lärm in der Klasse daran hindern, den Unterricht zu verfolgen. Kritisiert wird auch das System der Noten. In Frankreich erhält der Schüler eine Punktzahl auf einer Skala von 0 bis 20. Das sei »undurchsichtig« und gebe keine klare Auskunft. Eine Einschätzung der Lehrer fehlt völlig, denn gegen alle Versuche, eine »Evaluierung« ihrer Arbeit einzuführen, haben sich die Gewerkschaften massiv und mit Erfolg gewehrt.

Am Geld liegt es nicht, dass Frankreich so schlecht abschneidet, konstatieren die Bildungsexperten der OECD, die die Zahlen ausgewertet haben und die mit anderen Ländern vergleichen können. Es werde nicht zu wenig in die Bildung investiert, aber die Mittel seien nicht immer optimal eingesetzt. Genau dasselbe hat 2013 auch der französische Rechnungshof in einer Untersuchung des Bildungssektors festgestellt.

Die Probleme liegen tiefer. So gibt es bei der Lehrerausbildung in Frankreich keine praktischen Übungen vor echten Klassen. Denen begegnen junge Lehrer, die ihre Karriere in der Regel in einer »Problem-Schule« in einer sozial schwierigen Vorstadt beginnen, erstmals im Berufsalltag. Auch stehen ihnen keine älteren und erfahrenen Pädagogen als Tutoren zur Seite; regelmäßige Weiterbildung für Lehrer ist in Frankreich das »fünfte Rad am Wagen«. So ist es nicht verwunderlich, dass jeder zehnte junge Lehrer schon nach weniger als fünf Berufsjahren das Handtuch wirft und der Volksbildung den Rücken kehrt, um sich einen anderen Job zu suchen.

Weil immer mehr Schüler allein mit dem gebotenen Unterricht nicht das Ziel der Klasse erreichen, boomt das Geschäft mit Nachhilfeunterricht. Auf der Strecke bleiben die, die sich so etwas nicht leisten könne. Von fünf Schülern aus einem »sozial benachteiligten Milieu« hat in Frankreich nur einer Aussicht, die Schule mit Erfolg abzuschließen, schätzen die OECD-Experten in der PISA-Studie ein. Von Studie zu Studie haben sich die Ungleichheiten verstärkt, konstatieren die Bildungsexperten.

Zu diesem Schluss kommen auch Kritiker im eigenen Land, die sich jetzt durch die Studie bestärkt sehen. »Das ganze System ist auf die Eliten ausgerichtet und bröckelt immer schneller am unteren Rand«, schätzt beispielsweise Jean-Paul Brighelli ein, der in Marseille Literaturlehrer für »Vorbereitungsklassen« ist und der über das französische Schulsystem ein Buch mit dem bezeichnenden Titel »Fabrik der Idioten« geschrieben hat. »Sicher wurde früher zu viel auswendig gelernt, aber in den letzten Jahren ist man ins andere Extrem verfallen«, meint er. »Bevor sich die Schüler den Stoff in kreativer Selbstständigkeit selbst erschließen können, müssen ihnen die Grundrechenarten, die Regeln der Rechtschreibung oder die Arbeit mit Nachschlagewerken und anderen Quellen in Fleisch und Blut übergegangen sein.«

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