Das ganze Feld war gelb
Der Erste Weltkrieg als technologisiertes Völkermorden
Die Wirkungen des geglückten Gasangriffes sind grauenhaft ... Die Toten liegen alle mit geballten Fäusten auf dem Rücken. Das ganze Feld ist gelb. Es heißt, dass Ypern fallen müsse. Man sieht es brennen - nicht ohne Bedauern für die schöne Stadt.» Dies notierte der seinerzeit berühmte Schriftsteller Rudolf G. Binding in seinem Tagebuch. Der gebürtige Deutschschweizer diente ab 1914 als kaiserlicher Kavallerieoffizier an der Westfront. Am 22. April 1915 wurde er Zeuge jenes Angriffes, der gemeinhin und doch zu Unrecht als Geburtsstunde des chemischen Krieges gilt. An diesem Tag versuchte die 4. Deutsche Armee an der französischen Nordfront einen Durchbruch zu erzielen. Mit dabei waren das sich vor allem aus Chemikern und Chemiestudenten rekrutierende «Gasregiment Petersen».
Gegen 18 Uhr waren 5730 Chlorgasflaschen mit 180 000 Kilogramm verflüssigtem Chlor vor Ypern abgeblasen worden. Die gelbweiße, dichte Gaswolke bewegte sich auf einer Breite von sechs Kilometern auf die gegnerische Linie zu. Sie traf auf unvorbereitete französische Kolonialtruppen und kanadische Soldaten, die fluchtartig das Gefechtsfeld verließen. 3000 Menschen entkamen nicht. Sie starben an jenem Frühlingstag einen grausigen Tod. Die fachliche Aufsicht der Operation oblag dem Leiter des Kaiser-Wilhelm-Institutes für physikalische Chemie und späteren Nobelpreisträger Fritz Haber. Dieser war 1909 durch die von ihm entwickelte Synthese von Ammoniak aus dem in der Luft enthaltenden Stickstoff bekannt geworden. Im Dezember 1914 schlug Haber erstmals den Kriegseinsatz von Chlor vor.
Chemischer Kampfstoffe bediente man sich schon in der Antike. Und während des Krimkrieges 1853 bis 1856 erwogen das britische Unterhaus und das Kriegsministerium ernsthaft den Plan der Naturwissenschaftler Michael Faraday und Sir Lyon Payfair, 7000 Tonnen Schwefel abzubrennen und das Dioxid in die belagerte russische Festung Sebastopol zu leiten. 1854 wurde die erste mit Kakodyl gefüllte Gasgranate patentiert. Neu war beim Angriff bei Ypern der Umfang des in Feindrichtung abgeblasenen tödlichen Gases.
Doch nicht nur die Deutschen nutzten im Ersten Weltkrieg chemische Kampfstoffe. Französische Truppen setzten 1914 Bromethylester ein, die Engländer verschossen im selben Jahr Lydditgranaten, die den Kohlenstoffmonoxidgehalt in der Luft massiv erhöhten hierdurch töteten. Durch den Einsatz von Bromethylester sollten die gegnerischen Soldaten nicht auf der Stelle getötet, sondern aus den Gräben gelockt und dann mit konventionellen Waffen kampfuntauglich gemacht werden. Im sogenannten «Buntschießen» mischte man Diphosgen, Phosgen et cetera mit Aerosolen. Diese, jeden damals bekannten Schutzfilter durchdringenden Stoffe lösten unerträgliche Reizreaktionen aus. Die betroffenen Soldaten wurden durch die beizenden Dämpfe gezwungen, die Schutzmasken abzunehmen. Häufig kam ein Gemisch aus Blaukreuz (Reizgas) und Grünkreuz (Giftgas) zum Einsatz.
Am 31. Mai 1915 startete das deutsche Heer auch einen Gasangriff bei Bolimow an der Ostfront. Nach den ersten Einsätzen entwickelte sich die neue «Nebelwaffe» zu einer der wichtigsten Waffengattungen überhaupt. Bis zu 30 Prozent der eingesetzten Artilleriemunition bestand nunmehr aus Giftgasgeschossen. Auch die Entente dehnte den Gaskrieg aus. Täglich kamen bis zu 20 000 Gashandgranaten zum Einsatz, die mit einem Gemisch aus Schwefelkohlenstoff, Schwefelwasserstoff und Capsaicin gefüllt waren. Ende 1915 gingen dann auch die Ententemächte zu Angriffen mit Chlorgas über. Französische Truppen mischten das grüngelbe Gas mit Phosgen, um die Wirksamkeit zu erhöhen. Die Deutschen antworten mit dem noch giftigeren Diphosgen.
Der Einsatz von Giftgas war Ausdruck einer bis dahin ungekannten Radikalisierung der Kriegführung, die eine Entscheidung durch vollständige Vernichtung des Gegners erzwingen wollte. Die Vermassung militärischer Auseinandersetzungen war begleitet von einer umfassenden Technisierung und Modernisierung der Streitkräfte. Dazu gehörte der Einsatz von Fesselballons, Luftschiffen und Flugzeugen sowie von Flammenwerfern und Maschinengewehren. Die bereits im Italienisch-Türkischen Krieg 1911/12 erstmals eingesetzten Fliegerbomben wurden perfektioniert. Jagdflieger bewölkten den Himmel über den Fronten. Wichtigstes deutsches Flugzeug war bis 1915 die «Rumpler-Taube», die dann von der Fokker abgelöst wurde. Zum Zeitpunkt des Waffenstillstandes 1918 verfügte Deutschland über 2548 Militärflugzeuge und besaß damit nach Frankreich (3331 Maschinen) die zweitstärkste Luftwaffe der Welt.
Zur Motorisierung der Armeen gehörte die Entwicklung von Panzerfahrzeugen. Der erste größere Einsatz von Tanks erfolgte durch englische Truppen in der Schlacht bei Cambrai 1917. Ein deutscher Soldat erinnert sich an den Tag, als die Tanks kamen: «Im Abstand von 50 bis 80 Metern tauchten sie auf. Es waren Hunderte. Wir waren platt.»
Als 1906 das erste U-Boot in den Dienst der deutschen Kaiserlichen Marine gestellt worden war, hielt die politische wie militärische Führung in Berlin nicht allzu viel von der neuen Waffe. Nachdem es jedoch 1914 einem U-Boot allein gelang, drei britische Kreuzer zu versenken, setzte man sogleich überspannte Hoffnungen auf die Unterwasserwaffe. Der von Deutschland erklärte uneingeschränkte U-Boot-Krieg brachte jedoch nicht wie erwartet eine Wende zu Gunsten der Mittelmächte, wohl aber den Kriegseintritt der USA 1917 und somit eine entscheidende Stärkung des Gegners.
Selbst im technologisierten Krieg gab es jedoch noch Relikte der Vormoderne. So bemühte sich das deutsche Kriegsministerium im November 1915 beim «Internationalen Verein der Rutengänger» um Spezialisten, die mit ihren Wünschelruten Wasseradern und Metallteile im Boden aufspüren sollten. Solche Kuriositäten können indes nicht über die alle bisherigen Schlachten übertreffende Dimension des Mordens hinwegtäuschen, die den Krieg von 1914 bis 1918 kennzeichnete. Starben Menschen in früheren Konflikten einzeln im Kugel- oder Artilleriefeuer, so wurden sie jetzt zu Tausenden verbrannt und vergast, von Bomben aus der Luft zerfetzt und von Panzerketten zermalmt oder starben in stählernen Kolossen über oder unter dem Wasser. Der Krieg schonte auch das Hinterland nicht. Nicht nur die Männer «im Feld», jede Frau, jedes Kind, jeder Greis waren betroffen. Der viel später propagierte «Totale Krieg» war bereits Realität.
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