Zum Leben erweckt
Die Ausstellungen und Sammlungen des Berliner Naturkundemuseums beherbergen 30 Millionen Objekte
Nautilus pompilius - Nasspräparat, Sammlung Wirbellose: aha. Gehört zu den Octopoden, Kopffüsser mit Außenschale: soso. Lebensraum in der Südseeregion …
Während Nautilus pompilius bei Schülern, die von ihren Lehrern ins Berliner Naturkundemuseum geführt werden, nur müdes Interesse wecken dürfte, ist der Kopffüsser im Glas für Elisa Schmitt ein aufregendes Präparat. Wegen der Geschichte, die sich mit ihm verknüpft. Wegen der Fantasien, die er bei ihr auslöst. Wegen der Träume, die er in ihr weckt.
Schmitt hat an der Humboldt-Universität Molekularbiologie studiert und dabei schnell gemerkt, dass es ihr keinen Spaß machen würde, nur im Labor zu arbeiten. Dass es ihr aber sehr großen Spaß machen würde, die Geschichte von Präparaten und wissenschaftlichen Theorien zu ergründen. »Wenn man wissenschaftliche Objekte hat, dazu Tagebücher und Briefe lesen kann, ist das spannender als ein Krimi.« Ausgehend von Präparaten wie Nautilus pompilius hat Schmitt ihre Diplomarbeit über die Geschichte jener Forschungsstation geschrieben, in der sie einst gewonnen wurden.
Ende des 19. Jahrhunderts, Bismarck-Archipel. Tag und Nacht klebrige Hitze. Richard Parkinson hat sich an sie gewöhnt: Schon 1875 ist er als Vertreter des Hamburger Handelshauses J.C. Godeffroy & Sohn in die Südsee gekommen, 1882 hat er sich auf dem Archipel angesiedelt. Dort besitzt er nun die Plantage Ralum - gar nicht schlecht, Herr Kolonist. Ab 1899 wird der Archipel, heute Papua-Neuguinea, zur Kolonie Deutsch-Neuguinea gehören.
Parkinson ist ein gebildeter Mann, nicht ohne Entdeckergeist und Ehrgeiz. Er möchte der Forschung dienen. Nicht nur, indem er selbst Erkundungsreisen auf umliegende Inseln unternimmt, nicht nur, indem er Bücher verfasst, nein, er will mehr. Noch sind Expeditionen von Europa in die Südsee abenteuerlich und äußerst gefährlich. Als da sind das »feindliche« Klima, Tropenkrankheiten, gegen die es noch keine Impfungen gibt, Konflikte mit den Ureinwohnern in kaum kartierten Gegenden. So fasst Parkinson den Plan, auf Ralum eine Forschungsstation einzurichten, in der auf Dauer gearbeitet werden kann. Als ihm ein Artikel des Biologen Anton Dohrn in die Hände fällt, der in Neapel mit der Zoologischen Station zur Erforschung der Meeresfauna das erste moderne Forschungsinstitut überhaupt gegründet hat, erkennt er seine Chance. Und tatsächlich gelingt es ihm, den berühmten Mann als Geldgeber für seine Idee zu gewinnen. In Jahren der Vorbereitung werden modernste Instrumente herangeschafft und Labore eingerichtet: Der erste Forscher kann anreisen.
Dieser erste Forscher ist Friedrich Dahl, ein Schüler von Dohrns Freund Karl August Möbius, der in Berlin das Zoologische Museum leitet. Ein Jahr lang schickt Dahl alles, »was ihm in die Falle, ins Netz oder vor die Flinte kommt«, nach Berlin - auch jenen Nautilus pompilius, an dem sich Elisa Schmitts Neugier entzündete. Die junge Biologin fand heraus, warum das Projekt Ralum scheiterte. Denn während Möbius gerade einen neuen Museumsbau in der Invalidenstraße erhielt, den es zu füllen galt, wollte Dohrn die Meerestiere für seine Forschung. Da Möbius auf seinem Standpunkt beharrte, kam es zum Zerwürfnis. Dohrn zog sich von Ralum zurück, und Dahl blieb der Einzige, der je auf der Station arbeitete. Die Präparate, die Möbius in sein Naturkundemuseum stopfte und die sich dort heute noch in zahlreichen Sammlungen finden, wurden, so Elisa Schmitt, teilweise sogar schlecht bearbeitet.
Die Geschichte um Nautilus Pompilius erzählt Elisa Schmitt jetzt auch auf der Internetseite des Naturkundemuseums unter www.mfn-wissensdinge.de. Noch viele andere Menschen erzählen dort Geschichten über Museumsobjekte, zu denen sie aus den unterschiedlichsten Gründen eine besondere Beziehung haben. Eine der Frauen, die diese Geschichten im Rahmen des auf zwei Jahre angelegten Forschungsprojekts »Wissensdinge« recherchieren und sammeln, heißt Kerstin Pannhorst. Die Anthropologin arbeitet seit September vergangenen Jahres als Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Initiative »PAN - Perspektiven auf Natur«. So nennt sich die kulturwissenschaftliche Abteilung eines neuen Forschungsbereichs im Museum - der Wissenschaftskommunikation und Wissensforschung. An möglichst vielen Beispielen soll aufgezeigt werden, dass die Objekte in einem naturkundlichen Forschungsmuseum sowohl Anschauungsmaterial als auch wissenschaftliche Studienobjekte und Inspirationsquellen in verschiedenen Zusammenhängen sein können.
»In der Museumsarbeit ist es gerade en vogue, sich mit der Geschichte einzelner Objekte zu beschäftigen«, berichtet Kerstin Pannhorst: »Was haben sie durchgemacht? Was haben Menschen mit ihnen erlebt? Wobei es nicht nur um die Historie geht, sondern auch darum, was in der modernen Forschung mit ihnen geschieht.« Mit anderen Worten: Die Museen arbeiten nicht zuletzt an ihrer Legitimation. Immerhin beherbergen die Ausstellungen und Sammlungen des Berliner Naturkundemuseums etwa 30 Millionen Objekte. Gegenstände, tote Dinge. Wozu braucht man sie, weshalb bewahrt man sie auf? Am eindrücklichsten erklärt man das Besuchern, Förderern und Sponsoren, indem man die Dinge zum Leben erweckt.
So hat auch Dr. Charles Oliver Coleman, Kurator der Sammlungen Crustacea (Krebse) und Protozoa (Einzeller), eine Geschichte beigesteuert. Wenn er sich als Krebsforscher vorstelle, sagt er, ernte er Bewunderung. Stelle er sich dagegen als jemand vor, der sein Leben den Flohkrebsen widmet, gäbe es schon einmal Lacher. Colemans ganze Leidenschaft gilt diesen Flohkrebsen, den »schönsten Krebsen«, die er je gesehen hat. Fünf Millimeter bis 30 Zentimeter können sie groß werden. Coleman fotografiert sie nicht, er zeichnet sie, damit die anatomischen Details sichtbar werden. Eine sterbende Kunst, bedauert er, er sei einer der Letzten seiner Art. Denn an den meisten Universitäten werde sein Spezialgebiet nicht mehr gelehrt: »Flohkrebsforscher brauchen nur so einfache Geräte wie das Mikroskop. Heute ist man aber der Meinung, je aufwendiger die benötigten Geräte, desto mehr Geheimnisse könne man mit ihrer Hilfe der Natur entlocken.« Coleman teilt diese Meinung nicht. »Auf unserem Planeten«, sagt er, »leben zwischen 10 und 100 Millionen Arten. Erst 1,8 Millionen davon sind bisher beschrieben worden.«
Colemans Geschichte handelt nicht von Flohkrebsen. Doch mit dem Meer hat auch sie zu tun. Mit Proben, die 1898/99 während der Deutschen Tiefseeexpedition unter Leitung des Zoologen Carl Chun mit der vom Kohlendampfer zum Forschungsschiff umgebauten »Valdivia« vom Meeresboden genommen wurden. Mehr als 110 Jahre lang hatte man die ursprünglich in Sammlungsgläsern mit hochprozentigem Alkohol konservierten, inzwischen staubtrockenen Sedimente in den Regalen der Krebssammlung aufbewahrt - niemand hatte sich für sie interessiert. »Jeder vernünftige Mensch hätte sie längst weggeschmissen«, sagt Coleman. »Aber: Im Museum wirft man nichts weg. Und tatsächlich, im letzten Jahr untersuchten den Schlick zwei Doktoranden aus Bremen, die zum Klimawandel und zur Ozeanversauerung arbeiten. Sie fanden winzige Einzeller, die Gehäuse aus Kalk ausbilden. Da sie noch vor den größten Klimasünden der Menschheit gesammelt wurden, konnte man die Schalen mit heute gesammelten Kalkschalen vergleichen, und anhand der unterschiedlichen Schalendicke und -struktur ließ sich die Versauerung des Meeres durch das Klimagas CO2 nachweisen.«
Eine weitere Geschichte tischt Johannes Penner auf, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Herpetologie. Vordergründig erzählt der 37-jährige Tropenbiologe von einer Schlange. Hört man aber genau hin, geht seine Rede über Begeisterung, Hingabe und Hartnäckigkeit, die einen Forscher antreiben. Und über das Glück, das er empfindet, wenn er das Objekt seiner Begierde findet.
Da beschrieben im Jahr 2002 Raffael Ernst und Mark-Oliver Rödel eine neue Schlangenart: die westafrikanische haarige Buschviper, Atheris hirsuta. Nur ein einziges Exemplar hatten sie entdeckt, im Tai Nationalpark in der Elfenbeinküste. Im selben Jahr belegte Penner den letzten wichtigen Kurs seines Studiums: Er untersuchte im gleichen Gebiet westafrikanische Gabunvipern. Irgendwie war er besessen davon, ein zweites Exemplar von Atheris hirsuta zu finden, doch der Bürgerkrieg begann, und er musste das Land verlassen.
Warum war es ihm so wichtig, ein zweites Individuum der auf Bäumen lebenden Schlange zu sichten? Penners Spezialgebiet ist die Makroökologie. Im Dienste des Naturschutzes untersucht sie Forschungsobjekte hinsichtlich ihrer Verbreitung, Häufigkeit und Diversität. Vor diesem Hintergrund arbeitet Penner übrigens seit 2010 auch als freiberuflicher Gutachter im Rahmen sogenannter Environmental Impact Assessments in Westafrika, das heißt, bevor sich internationale Firmen ansiedeln, wird die Umweltverträglichkeit ihrer Vorhaben geprüft. Mit den Gutachterhonoraren kann sich Penner seine Forschungstrips finanzieren. Als er nun 2012 mit einer Gruppe auf der Suche nach einem bestimmten Frosch in Liberia weilte, sechs Tage lang auf dem Mount Swa campte, sich in der letzten Nacht müde über den Berg schleppte, beschloss er, noch einmal hinter dem letzten Kamm zu suchen. Und da war sie in einem Gebüsch! Das zweite entdeckte Exemplar von Atheris hirsuta, 200 Kilometer vom ersten Fundort entfernt. Ein wichtiger Hinweis auf ihr Verbreitungsgebiet. Darüber hinaus konnte ihre DNA bestimmt werden, die weitere wissenschaftliche Fragen aufwirft.
Wem es noch nicht klar war, der weiß es jetzt: Das Abenteuer wohnt im Museum. Und das Staunen über die Vielfalt naturkundlichen Arbeitens. Sollten Schüler, die von ihren Lehrern ins Museum gelotst werden, solche Geschichten zur Kenntnis nehmen, könnten ihnen diese einen Zugang zu einem Wissensgebiet eröffnen, so ihnen der zoologische oder der botanische fehlen. So gesehen: Gut gebrüllt, Löwe.
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