Auf Beton gebaut
Finnland glaubt an seine strahlende Zukunft - mit Atomkraft
Die Zeiger eines an eine moderne Bahnhofsuhr erinnernden Zeitmessers stehen mit absoluter Genauigkeit auf der Zwölf. Die Uhr läuft noch nicht und bis sie zum ersten Mal eine Runde zu drehen beginnt, können noch Jahre vergehen. Der Reaktor 3 im Atomkraftwerk in Olkiluoto sollte zwar schon längst Energie für die Finnen erzeugen. Ähnlich wie beim Pannen-Flughafen BER in Berlin-Schönefeld, verzögert sich die Inbetriebnahme aber erheblich. Nach den ausgerufenen Terminen 2009 und 2014 wird inzwischen kein neuer mehr genannt. Frühestens 2016 sei damit zu rechnen, dass im ersten «Europäischen Druckwasserreaktor», einem AKW neuen Typs, die Kernspaltung Energie in Höhe von bis zu 1600 Megawatt freisetzen wird.
Mit Schutzhelm, Weste und Arbeitsschuhen dürfen Journalisten die Baustelle auf der Insel im Bottnischen Meerbusen vor der Westküste Finnlands betreten. Zwei Reaktoren arbeiten dort bereits, ein vierter ist an diesem Ort, etwa 200 Kilometer von Helsinki entfernt, in Planung.
Ein Rundgang durch einige der etwa 2700 Räume von Olkiluoto 3 offenbart die offenen Wunden dieses Vorhabens. Viele Maschinen, wie die riesigen Dampferzeuger und die Wasserpumpen, unzählige Meter Rohre und Kabel sind bereits verlegt, doch längst ist nicht alles angeschlossen. Teils handschriftlich markierte Zettel hängen an verplombten Anlagen. Immer wieder sind, wenn auch nur wenige, Bauarbeiter anzutreffen. Papierschilder in englischer und polnischer Sprache weisen den Weg oder verbieten, bestimmte Teile anzufassen. Auch wenn es hier nicht darum geht, noch Tapeten an die Wände zu bringen oder mit sonstigem Dekor für Gemütlichkeit zu sorgen, viele der Gänge und Räume machen nicht den Anschein, als würde hier bald normaler Betrieb herrschen. Die Atmosphäre in diesem Bauwerk ist eine eigenartige. Es weist beeindruckende Dimensionen auf, die nur ansatzweise erahnen lassen, welche Energiemengen hier bald entstehen könnten und unter Kontrolle gehalten werden müssen.
So präsentieren die Bauherren und Betreiber dieses Reaktors ihr Projekt mit Stolz und Begeisterung für die relativ neue Technologie. Derrick Kamele, Ingenieur beim französischen Atomkonzern Areva, führt die Besuchergruppe durch die Maschinen- und Computerräume bis in das Herzstück der Anlage: das Reaktorgebäude mit dem Kran direkt unter der massiven Stahlbeton-Kuppel - die sogar einem Flugzeugabsturz standhalten könne - und dem Druckbehälter, indem die Brennelemente zur Wirkung kommen sollen. Von diesen und dem Wasser, das einmal in dem 25 Meter tiefen Pool stehen wird, ist in diesen Tagen noch nichts zu sehen. Doch schon jetzt sagt Kamele: «Es ist sehr spannend, den Bau des Kraftwerks zu erleben.» Der Ingenieur ist vor vier Jahren nach Olkiluoto gekommen, vorher hat er drei Jahre am Siemens-Standort Erlangen an dem Projekt theoretisch gearbeitet. Dass ihm im Laufe der Zeit Zweifel an der Arbeit gekommen sein könnten, dafür gibt Kamele keinerlei Anzeichen. Dabei ist Areva in den letzten Jahren immer wieder in die Kritik der Atomaufsichten geraten, auch der Kraftwerksbau im französischen Flamanville ist in Verzug. Warum sich die Fertigstellung in Olkiluoto verzögert, will Kamele nicht genau erklären. Käthe Sarparanta von der Betreibergesellschaft - dem halbstaatlichen Energieversorger TVO - gibt sich gesprächiger. Es hake an der Automatisierungstechnik, also der Computersteuerung und -überwachung der Energiegewinnung durch die nukleare Kettenreaktion. Das wird auch beim Rundgang offensichtlich. Es fehlen noch zahlreiche Steuerungselemente. Die halb eingerichtete Schaltzentrale, der Kontrollraum in einer fast hermetisch abgeriegelten Betonbox, wo später sieben Menschen das gesamte Geschehen überwachen sollen, ist verwaist. Nur drei Großbildschirme warten schon darauf, eingeschaltet zu werden.
Die resolute Sarparanta, ebenfalls Ingenieurin, spricht jedoch auch von Mängeln in der Vorbereitung. «Seit 20 Jahren ist in Westeuropa kein Atomkraftwerk mehr gebaut worden. Es wurde nicht detailliert genug geplant», so Sarparanta vor den Journalisten. Verschwiegenheit herrscht aber bei beiden Parteien, dem Konsortium Areva-Siemens und TVO, über die Höhe der Kosten. Drei Milliarden Euro waren ursprünglich geplant. Inzwischen muss die Verzögerung erhebliche Mehrkosten zur Folge haben. Wer sie zu tragen hat, damit beschäftigen sich schon die Gerichte. Um welche Summen es geht und wie viel die öffentliche Hand bzw. die Stromkunden davon zu zahlen haben werden, sei aber allein Sache der Vertragsparteien, sagt Sarparanta. «Wir sind sehr enttäuscht, aber wir glauben, dass es eine sehr gute Anlage bezogen auf die Qualität und Sicherheit wird. Und ergänzt: »Niemand würde in etwas investieren, das sich nicht rentiert.«
Das Geschäft mit der Atomenergie ist Finnland sehr viel Wert. Nicht nur in für Strom zu gewinnende Euro ausgedrückt. Die Finnen wollen am liebsten unabhängig von Energieimporten sein. Atomkraft macht derzeit fast ein Drittel der Energieerzeugung aus. Höher ist nur der Anteil von Strom aus fossilen Brennstoffen. Ein Großteil davon wird aus russischem Gas gewonnen. Wasserkraft und Energie aus Biomasse rangieren nur an dritter bzw. vierter Stelle.
Aus Sicht des Grünen Bundes, der finnischen Öko-Partei, muss das nicht so bleiben. »Die Behauptung, dass Finnland nicht mehr Potenzial für erneuerbare Energien besitze, ist Propaganda der Atomindustrie«, sagt Pekka Sauri, Stellvertretender Bürgermeister der Hauptstadt Helsinki für die Grünen. Aber: »Atomkraft wird genutzt und ihre Befürworter sind in der Mehrheit.« Nicht nur, weil sie für viele Finnen Autonomie bedeutet. Entscheidend für den Umgang mit der gefahrenreichen Technologie ist die gewisse sachliche Grundhaltung vieler Finnen. »Viele sind bei diesem Thema indifferent, pragmatisch. Sie denken, dass Atomkraft sicher ist, weil in den letzten Dekaden nichts passiert ist«, versucht Sauri diese Mentalität zu erklären. Tatsächlich ist immer wieder zu lesen und in vielen Gesprächen - sei es mit Künstlern, Politikern oder Arbeitern - zu hören, dass die Finnen ihren Experten vertrauen. Zudem ist Energiepolitik kein besonders großes Thema in dem für seine Seen, Wälder und Saunen bekannten Land. Wohl auch, weil Strom etwa im Vergleich zu Deutschland sehr günstig ist. Nicht einmal die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 konnte ein Umdenken über die Energieerzeugung einleiten.
Die Probleme beim Bau von Olkiluoto 3 passen aber nicht zu diesem Pragmatismus. Und so ändert sich die Meinung über dieses Projekt zumindest in Teilen der Bevölkerung. In Eurajoki, dem Ort zu dem die Insel Olkiluoto gehört, sind angesichts der Verzögerungen kritische Töne zu hören. Die Gemeinde mit ihren knapp 6000 Einwohnern ist leicht zu verfehlen. Der Ortskern besteht gerade einmal aus einer Durchgangsstraße, an der sich zwei Supermärkte, die Kirche, eine Tankstelle sowie ein kleines Bürogebäude reihen. Ein paar hundert Meter weiter sind eine Schule und eine Jugendherberge zu finden. Wenige Menschen sind hier morgens unterwegs, noch weniger wollen mit Journalisten sprechen. Die, die reden, erwähnen immer wieder die Arbeitsplätze, die das Atomkraftwerk bietet. Andere sehen Eurajoki nur als Ort zum Leben und denken gar nicht über die Anlagen in wenigen Kilometern Entfernung nach.
Nicht so Pirjo und Juha Jaakkola. Sie ist bei der Gemeinde für Kultur zuständig und arbeitet als Touristenführerin, ihr Ehemann bewirtschaftet Land und hat sich jahrelang in der Gemeindevertretung engagiert. Aus aller Welt kommen inzwischen Menschen, um sich das Atomkraftwerk und die Endlagerbaustelle anzusehen. TVO hat sich darauf eingestellt und empfängt seine Gäste in einem Besucherzentrum mit Restaurant, Hörsaal und Ausstellung. Von dessen Terrasse aus sieht man bestens auf die Nuklearanlagen - und ein Windrad, das TVO als kleine Machtdemonstration aufgestellt hat. Je nach Laune werde es eingeschaltet, heißt es.
50 000 bis 60 000 Menschen sind jährlich in Eurajoki zu Gast, darunter auch viele Geschäftsleute. Über die Besucher freut sich die kleine lebensfrohe Pirjo. Der Atomkraft stehen sie und ihr Mann heute allerdings skeptisch gegenüber. Als Areva zur Sprache kommt, verfinstert sich die Miene von Juha Jaakkola. »Sie haben das Kraftwerk schlecht geplant und zu viel Geld dafür ausgegeben, statt in andere Technologien zu investieren.« Es gebe viele andere Möglichkeiten, die nötige Energie zu erzeugen, meint auch Pirjo. »Wir Finnen sagen immer: Du musst auf den Baum achten, unter dem du stehst.« Weil sie sich diesem Landstrich so verbunden fühlt, hat die 61-Jährige fast ihr ganzes Leben hier verbracht. Nur zum Studieren ging sie nach Helsinki. In ihrem Beruf als Jugendsozialarbeitern war sie aber stets in Eurajoki beschäftigt. Und hat mit ihrer Familie die Entwicklung der Region zum wichtigsten Standort für Atomkraft in Finnland und für die Endlagerung des strahlenden Mülls miterlebt. »Es ist schwer, dagegen zu sein. Man muss gut argumentieren können, und selbst Experte sein.« Die im Land vereinzelten überzeugten Atomkraftgegner beschreibt Pirjo eher als Fabelwesen, die ein Leben lang der Aussichtslosigkeit auf Erfolg trotzen.
Als 1973 beschlossen wurde, hier ein AKW zu bauen, gab es im 27-köpfigen Gemeinderat nur eine Gegenstimme für das Vorhaben. Zwei Siedewasserreaktoren sind so seit 1979 bzw. 1982 im kommerziellen Betrieb. Seit 2005 wird nun schon der dritte Block gebaut, am vierten soll Siemens nicht mehr beteiligt sein. Noch bevor diese zu arbeiten beginnen, könnte direkt neben ihnen mit der unterirdischen Einlagerung von Atommüll begonnen werden. Eurajoki ist weltweit bekannt geworden, als Finnland sich für das Endlager an diesem Standort entschied. In den Medien hieß es damals, die Gemeinde Eurajoki hätte sich darum gerissen, Endlagerstätte zu werden - nicht nur für den vor Ort anfallenden Abfall, sondern auch für jenen aus dem anderen finnischen AKW in Loviisa bei Helsinki. Die Frage, ob hier auch einmal ausländischer Abfall landen würde, stellte sich nie. Finnland hat den Im- und Export von radioaktivem Abfall gesetzlich verboten.
Dass Eurajoki unbedingt das Endlager wollte, ist nur die halbe Wahrheit. Zwar hat der Gemeinderat dem Vorhaben mit großer Mehrheit zugestimmt, doch weniger, weil die Menschen an Atomkraft so großen Gefallen finden. »Wir profitieren in so vielen Bereichen von den AKW, dann müssen wir auch den Müll nehmen«, beschreibt Pirjo Jaakkola das allgemeine Verantwortungsbewusstsein. Mit den Vorteilen meint sie vor allem Jobs und Steuereinnahmen.
Die Bestimmung des Endlagerortes folgte den Regeln des finnischen Pragmatismus. Schon 1983, also nur sechs Jahre nachdem mit Loviisa 1 das erste finnische AKW in Betrieb ging, entschied die Regierung, bis 2020 ein Endlager zu schaffen. Nach einer ersten Untersuchung in den 80er Jahren kamen 100 Orte in Frage - Eurajoki war nicht darunter. Es wurde dennoch hinzugenommen. In vier Orten machte die Betreiberfirma POSIVA, hinter der sich TVO und der andere große Energieversorger FORTUM verbergen, schließlich eine Meinungsumfrage. Die Akzeptanz für ein Endlager war demnach in Loviisa und Eurajoki am höchsten. Im Jahr 2001 fiel die Entscheidung. POSIVA sagt heute, dass der Standort am AKW Olkiluoto gewählt wurde, weil hier mehr Platz gewesen sei und sich der Ort kooperativer gezeigt habe. Zu dem Deal gehörte auch, dass eine baufällige Engel-Villa von POSIVA für die nächsten 40 Jahre gemietet und restauriert wird sowie weitere Zahlungen an die Gemeinde erfolgen.
Die Arbeiten an dem Endlager gehen im Gegensatz zu jenen an Olkiluoto 3 gut voran. 2022 sind die ersten Brennstäbe nach ihrer Zwischenlagerung in den Abklingbecken zur Einlagerung in über 400 Meter Tiefe bereit. Das Tunnelsystem im Granitboden, in den insgesamt 9000 Tonnen Uranmüll versenkt werden sollen, wird gebohrt und vorbereitet. Das wirkt sich auch auf den Besuch aus. Ausgerechnet an diesem Tag ist es nicht möglich, bis zum tiefsten Punkt zu gelangen, erklärt Jyrki Liimatainen von POSIVA, als er die notwendige Schutzkleidung - darunter ein Sauerstoffvorrat für 30 Minuten - für die Besichtigung von »Onkalo« verteilt. Der Ort wurde mit einem Wort benannt, das Finnen unterschiedlich interpretieren. Es heißt so viel wie »Höhle« oder »Versteck«. Die einen sehen darin eine Verniedlichung, weil sie der Begriff an Kindheitsspiele erinnert. Andere können solche Kritik nicht nachvollziehen und betrachten das Wort allein als eine technische Bezeichnung für einen »Keller«.
Die Fahrt mit dem Kleinbus auf 180 Meter Tiefe dauert nur wenige Minuten. Es ist kühl und riecht leicht feucht. An den Felswänden ergießen sich vereinzelt Rinnsale. Sie stammen von den Bauarbeiten, sagt Liimatainen. Aber auch sonst bahne sich immer Flüssigkeit den Weg durch den Granit. An diesem Standort gebe es jedoch relativ wenig Wasserbewegung von unten nach oben. »Dieser Ort war gut genug, es musste nicht der beste gefunden werden«, wiederholt Liimatainen das Mantra seiner Firma. Von den Debatten in Deutschland um Gorleben und die Schachtanlage Asse wisse er. Dass die Deutschen so emotional diskutieren, kann er aber nicht verstehen. »Es ist da, es muss weg«, sagt er mit größtmöglicher Ruhe.
Angst vor dem Wasser hat der Geologe nicht. Die verbrauchten Brennstäbe sollen schließlich in Kupferkapseln in den Boden eingebracht und mit Bentonit, einem besonderen wasseraufsaugenden Steingemisch, verfüllt werden. Im Jahr 2112 will POSIVA die letzten Tunnel versiegeln. Wenige Jahre später werde nichts mehr an die atomare Deponie erinnern, heißt es. Und das, obwohl keiner genau sagen kann, ob das Bentonit dem Wasser und der Zeit standhalten wird. Gerade zeitgemäß wirkt dieser Plan angesichts der Diskussionen über die Rückholbarkeit des Mülls in anderen Ländern nicht. Eher klingen die Ausführungen nach einem Science-Fiction-Film, in dessen zweiten Teil die Menschheit versehentlich auf den radioaktiven Abfall stoßen und eine Katastrophe auslösen könnte.
Onkalo ist für den Müll von sechs Atomreaktoren ausgelegt. Doch während unter der Insel Olkiluoto die Probebohrungen weitergehen, steht das Thema Atomkraft in Helsinki wieder im Fokus. Das Parlament muss sich bald noch einmal mit dem weiteren geplanten Atomkraftwerk befassen. Wo dessen möglicherweise anfallender Müll einmal landen soll, weiß in Eurajoki keiner. Eines steht aber fest: Der Ausgang der erneuten Atomkraftdebatte wird von der Weiterentwicklung der Ukraine-Krise abhängen. Das geschichtlich bedingt besondere Verhältnis Finnlands zu Russland könnte das Geschäft mit dem Konzern Rosatom erheblich erschweren. Die Macht des Pragmatismus wird dabei nicht zu unterschätzen sein.
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