Puzzeln auf dem Weg zum Gipfel

Gespräche auf mehreren Ebenen vor dem Treffen der Staats- und Regierungschefs

  • Katja Herzberg
  • Lesedauer: 4 Min.
Die EU-Politik vollzieht sich dieser Tage in Einzelgesprächen. Fakten wurden bisher nur im Parlament geschaffen.

Es sind arbeitsreiche Tage für den EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy. Erst lotete der Belgier den Widerstand der Fraktionen im Europäischen Parlament in der Frage aus, ob Jean-Claude Juncker Präsident der nächsten EU-Kommission werden muss. Diese Woche reiste er als Chefunterhändler der Staats- und Regierungschefs in die Hauptstädte.

Bei dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi in Rom soll es jedoch nicht nur um Personalien gegangen sein. Den EU-Gipfel in der nächsten Woche wollen mehrere Länder nicht nur für die Verhandlungen um die Neubesetzung des Kommissionsvorsitzenden, des Außenbeauftragten, des Ratspräsidenten sowie des Chefs der Eurogruppe nutzen, sie wollen die Personalfragen an das Arbeitsprogramm der EU für die kommenden Jahre knüpfen.

Renzi, die französische Regierung und andere gehen hierbei allerdings geschickter vor als der britische Premier David Cameron. Dessen Festlegung gegen Juncker machte erst einen Konsens unmöglich und öffnete mehr und mehr die Verhandlungstür. »Ich werde bis zum Ende dagegen sein - es ist ausgeschlossen, dass ich meine Sicht ändere«, bekräftigte Cameron am Dienstag in London.

Trotz des britischen Widerstands wird Van Rompuy wohl beim Treffen des Europäischen Rates in Brüssel vorschlagen, den Luxemburger Juncker zum Nachfolger José Manuel Barroso zu nominieren. Juncker war bei der Europawahl der Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei, zu der auch die CDU/CSU gehört. Da sie die stärkste Fraktion im EU-Parlament bildet, fordern viele Konservative, aber auch Europaabgeordnete anderer Parteien, dass die Staats- und Regierungschefs Juncker aufstellen. Das Parlament darf den Kommissionschef zwar wählen, das Vorschlagsrecht liegt aber beim Rat.

In den Medien werden jedoch munter weitere mögliche Kandidaten gehandelt. Der zurückgetretene finnische Regierungschef Jyrki Katainen zählt seit Mittwoch nicht mehr zu der Riege. Er soll übergangsweise den bisherigen EU-Währungskommissar Olli Rehn ersetzen, teilte Helsinki am Mittwoch mit.

Wie die Zukunft der Ministerpräsidentin Dänemarks, Helle Thorning-Schmidt, aussieht, könnte an diesem Donnerstag bei einem Mittagessen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel Thema sein. Auf der Tagesordnung stehen laut dänischer Regierung »die künftigen Prioritäten für die europäische Zusammenarbeit und die Klima- und Energiepolitik der EU«. Thorning-Schmidt hatte selbst stets abgestritten, Anwärterin auf ein hohes EU-Amt zu sein.

Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, der als Gegenkandidat von Juncker am stärksten um den Chefsessel im Brüsseler Berlaymont-Gebäude gerungen hat, verabschiedete sich am Mittwoch von dem Posten. Der bisherige Präsident des EU-Parlaments ließ sich von der sozialdemokratischen Fraktion zu deren Vorsitzenden wählen. Gleich darauf kündigte er aber an, Vizepräsident der EU-Kommission werden zu wollen. Zugleich forderte er die Nominierung von Juncker zum Kommissionschef. »Wir dürfen nicht einen Prozess verzögern, über den die Wähler abgestimmt haben«, zitierte ihn die dpa.

Schulz gab sich zuversichtlich, dass es beim EU-Gipfel eine Entscheidung für Juncker geben werde - als Teil eines Personalpakets, zu dem er selbst gehören will. »Dass ich in dem Paket eine Rolle spielen werde als Sozialdemokrat, das ist klar«, so der 58-Jährige. Mit seinem neuen - zumindest vorläufigen - Amt als Fraktionsvorsitzender ist Schulz als Parlamentspräsident zurückgetreten. Für ihn übernimmt bis zur Konstituierung des neunten EU-Parlaments und zur Neuwahl des Postens Anfang Juli der Italiener Gianni Pittella.

Bis dahin haben die Abgeordneten noch Zeit, sich in Fraktionen zu begeben und neue zu gründen. Offen ist etwa noch, wie viele Rechtsfraktionen zustande kommen werden und wie hoch die Zahl der Fraktionslosen sein wird. Diese Gruppe ist bei der Europawahl am stärksten gewachsen. Viele neue Abgeordnete konnte auch die Linksfraktion GUE/NGL hinzugewinnen. Letzte Woche gab sie bereits ihre künftige Zahl von 52 Mandatsträgern (zuvor 35) bekannt. Seit Wochenbeginn wird über die personelle Führung und Arbeitsstrukturen beraten. Wie aus der Fraktion zu hören ist, soll der konföderale Charakter, also ein hohes Maß an Eigenständigkeit der einzelnen Mitglieder, erhalten werden. Der Vorsitz sowie Stellvertreterposten könnten an diesem Donnerstag bestimmt werden.

Die aktuelle Konzentration auf Personalfragen sieht der Verein Mehr Demokratie wenig problematisch. Tim Weber, stellvertretender Geschäftsführer und Mitglied des Arbeitskreises Wahlrecht, befürchtet im nd-Gespräch jedoch, dass das Wahlergebnis nicht ausreichend ausgewertet wird. »Es müsste eine kritische, gesellschaftliche Diskussion über die europäische Integration einsetzen«, so Weber. Zudem sollte das Parlament, statt sich um seinen Einfluss bei der Besetzung des Kommissionspräsidenten zu sorgen, stärker für seine ureigensten Rechte eintreten. Den Vorrang bei der Gesetzgebung genieße weiterhin die Kommission, die stark vom Rat beeinflusst sei.

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