Lernen wie die Zebrafinken

Im Schlaf macht das menschliche Gehirn Gelerntes abrufbar - es repariert, sortiert, probiert und vervollkommnet

  • Frank Ufen
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach den Erkenntnissen von Medizinern lernt unser Gehirn im Schlaf, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet ist. Schlafmangel kann folglich ernste Folgen haben.

Junge Zebrafinken lernen das Singen, indem sie sich ausgiebig mit den Gesangskünsten eines älteren Vorbildes beschäftigen. Zunächst hören sie ihm wochenlang aufmerksam zu und prägen sich die Gesangsmuster ein. Erst danach versuchen sie sich selbst als Sänger, wobei sie an ihren Gesängen so lange feilen, bis sie mit den Vorlagen nahezu vollkommen übereinstimmen. Wie der Psychologe Sylvan Shank und der Biologe David Margoliash (Universität Chicago) kürzlich herausgefunden haben, macht der Zebrafinken-Nachwuchs beim Singenlernen die größten Fortschritte, während er schlummert. Die gleichen Gruppen von Neuronen, die aktiv sind, wenn die Jungvögel tagsüber ihre Gesangsübungen absolvieren, arbeiten nämlich auch nachts auf Hochtouren. »Wir glauben, dass die Vögel vom Singen träumen. Sie können anscheinend speichern, welche Nervenzellen tagsüber beim Singen aktiv sind, und proben dann nachts,« erklärt Daniel Margoliash.

Es scheint, dass auch Menschen wesentliche Dinge im Schlaf lernen. Nach den Erkenntnissen des Tübinger Schlafmediziners Jan Born ist das Gehirn immer dann, wenn das Bewusstsein ausgeschaltet ist, damit beschäftigt, Informationen vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis zu überführen, sie miteinander zu vernetzen, sie einzuordnen und zu bewerten; außerdem treibt es die Aneignung und Vervollkommnung von Fertigkeiten voran, indem es die ihnen zugrundeliegenden Handlungsprogramme immer wieder abspulen lässt. Einige Befunde deuten zudem darauf hin, dass im Gehirn während der Schlafphasen Wartungsarbeiten durchgeführt werden, in ihm aufgeräumt und es von nutzlos gewordenen synaptischen Verbindungen entrümpelt wird. »Jeden Tag,« erklärt der Neurowissenschaftler Giulio Tononi (Universität Wisconsin), »lernen wir mehr, als wir glauben. Tonnen von Erfahrungen hinterlassen Spuren, indem sie Synapsen verändern, meist verstärken. Es ist wunderbar, dass man so viele synaptische Spuren im Hirn haben kann, aber sie haben ihren Preis: Synapsen brauchen Proteine und Fett, Platz und Energie.«

Dadurch, dass im Schlafzustand das Bewusstsein abgeschaltet ist und das Gehirn kaum von äußeren Sinnesreizen behelligt wird, wird vermutlich eine Art Offline-Verarbeitung von gespeicherten Informationen ermöglicht. Laut dem Traumforscher Jonathan Winson (Rockefeller Universität in New York) kann das menschliche Gehirn deswegen mit Rechenleistungen aufwarten, zu denen es in den Wachstunden nicht imstande wäre, weil es dafür eine ungeheure Menge von Ressourcen benötigen würde.

Dass der Schlaf es dem Körper ermöglichen soll, sich zu regenerieren, ist eine schlüssige Hypothese, die sich auf zahlreiche Befunde berufen kann. Offenkundig beschleunigt sich während des Schlafs das Wachstum der Zellen, verschiedene Reparaturmechanismen sind am Werk, und das Immunsystem nutzt die Nachtstunden dazu, seine Abwehrkräfte zu verstärken. Ein anderer Umstand kommt hinzu. Letztes Jahr hat die dänische Kognitionswissenschaftlerin Maiken Nedergaard im Gehirn ein Netz von Kanälen entdeckt, die offenbar dazu dienen, giftige Abfallprodukte, die sich im Laufe des Tages angesammelt haben, wegzuschwemmen. Auch dieses Wegschaffen des Giftmülls erledigt das Gehirn in den Stunden, in denen der Körper schläft.

Der Umstand, dass das Gehirn in den Nachtstunden mit derart vielen Aufgaben beschäftigt ist, lässt vermuten, dass anhaltender Mangel an Schlaf bei ihm zu schweren Schäden führen könnte. Das scheint tatsächlich der Fall zu sein. Die US-amerikanische Schlafforscherin Sigrid Veasey (Universität von Pennsylvania in Philadelphia) behauptet sogar: »Wenn wir nicht gut schlafen, erlauben wir den Dingen, die neuronalen Verfall begünstigen, sich unkontrolliert aufzustapeln. Wenn wir Schlaf auslassen, könnten wir dem Gehirn irreparable Schäden zufügen, es vorzeitig altern lassen oder es verwundbarer machen.«

Schon seit längerem ist bekannt, dass das Risiko, übergewichtig zu werden, an Diabetes Typ 2 zu erkranken oder an Bluthochdruck zu leiden, desto höher ist, je weniger und unregelmäßiger man schläft. Man weiß mittlerweile auch, dass chronischer Schlafmangel die Gefahr mit sich bringt, schneller zu altern. Denn der Körper erzeugt Wachstumshormone in erster Linie im Schlafzustand, und diese Wachstumshormone werden für die Erneuerung der Zellen benötigt. Aber nicht genug damit. Letztes Jahr haben der Genetiker Colin Smith und seine Mitarbeiter von der Universität Surrey herausgefunden, dass eine Woche lang weniger als sechs Stunden Schlaf pro Nacht genetische Veränderungen hervorrufen kann, die ihrerseits Fettsucht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen auslösen können.

Die britischen Wissenschaftler stießen bei ihren Probanden auf insgesamt 711 Gene, die durch den Schlafentzug teils lahm gelegt waren, teils erheblich aktiver geworden waren als vorher. Diese Veränderungen waren insbesondere an solchen Genen zu beobachten, die an der Regulierung des Stoffwechsels, an der Immunabwehr und körperlichen Reaktionen auf Stress und Entzündungen beteiligt sind. Ob diese Veränderungen irreversibel sind oder nicht, muss allerdings noch geklärt werden.

Sigrid Veasey und ihre Mitarbeiter haben unlängst ein Experiment mit Mäusen durchgeführt, die für kurze Zeit oder über mehrere Wochen hinweg daran gehindert wurden, genügend Schlaf zu bekommen. Danach analysierten die Wissenschaftler, ob dieser Schlafentzug in einem bestimmten Areal der Mäuse-Gehirne - im Locus caeruleus, der für die Steuerung von Aufmerksamkeit und für das Speichern und Einordnen von Informationen eine Schlüsselrolle spielt - irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. Über den alarmierenden Befund berichten Veasey und ihr Team im »Journal of Neuroscience«: Bei den Mäusen, die nur vorübergehend mit sehr wenig Schlaf hatten auskommen müssen, funktionierten die Neuronen im Locus caeruleus nach wie vor gut. Diese Neuronen hatten durch erhöhte Ausschüttung von Sirtuin-Proteinen ihren Energiestoffwechsel noch im Gleichgewicht halten können. Bei den Mäusen hingegen, die unter anhaltendem Schlafmangel zu leiden gehabt hatten, waren in dieser Gehirnregion bis zu 25 Prozent der Neuronen zugrunde gegangen. Bei ihnen war der Energiestoffwechsel völlig aus dem Gleichgewicht geraten und schließlich zusammengebrochen, weil sie nicht mehr imstande waren, die vor Schäden schützenden Sirtuin-Proteine in ausreichender Menge zu erzeugen. »Das ist der erste Beleg dafür, dass Schlafmangel tatsächlich einen Verlust von Gehirnzellen auslösen kann«, erklärt Sigrid Veasey.

Dass ständiger Schlafmangel für das menschliche Gehirn ähnlich verheerende Folgen hat, ist wahrscheinlich, aber noch nicht erwiesen. Veasey und ihre Kollegen wollen jetzt erforschen, ob sich im Locus caeruleus von Schichtarbeitern Anzeichen dafür finden lassen. Sollte das zutreffen, wäre das eine sehr schlechte Nachricht. Man weiß nämlich mittlerweile, dass Schäden in dieser Gehirnregion mit Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson zusammenhängen. Allerdings ist es Veasey inzwischen schon gelungen, bei Mäusen den Sirtuin-Gehalt von Neuronen künstlich zu steigern. »Wenn wir damit die Zellen schützen können, dann sind wir auf dem Weg zu einem vielversprechenden Ansatz für Millionen von Schichtarbeitern«, verspricht Sigrid Veasey.

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