Linda und der Fußball

Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Dumme an der Zeit ist, dass sie sich dem menschlichen Willen, sie zu beherrschen, nach wie vor erfolgreich widersetzt. Jede Sekunde, die verstrichen ist, ist unweigerlich Vergangenheit. Das ist das Gesetz der Zeit. Gegenwart ist demzufolge ein Euphemismus, denn unser Verhältnis zur Zeit kennt nur Vergangenheit und Zukunft - das, was hinter uns liegt und das, was noch kommen mag, das noch Unbekannte. Das Hier und Jetzt: pure Einbildung.

Zu keiner Zeit ist das schmerzhafter zu erfahren als zu der einer Fußball-Weltmeisterschaft. Wer zum Beispiel Fußball-Weltmeister werden wird, wissen wir nicht. Die Momente, die uns Gegenwart vorgaukeln, der Kopfball, der Freistoß, verflüchtigen sich unweigerlich just in diesen Momenten ins Vergangene. Es ist deshalb ein sträflicher Verstoß gegen die Gesetze der Zeit, auch nur eine Minute eines Spiels zu versäumen, geschweige denn die kostbare Zeit mit anderen Beschäftigungen zu vergeuden.

Zum Beispiel damit, dass man während einer Fußball-WM auf einem Kartoffelacker steht und Unkraut zwischen den Reihen der Kartoffelpflanzen (die gute alte Sorte »Linda«) jätet. Das habe ich Trottel doch tatsächlich während der Fußball-WM 1986 in Mexiko getan und so das Halbfinale zwischen Beckenbauers Gurkentruppe und Michel Platinis Franzosen sowie das Endspiel BRD-Argentinien verpasst.

Zu meiner Ehrenrettung kann ich mich nicht einmal darauf hinausreden, dass ich zu dieser Zeit eine Gefängnisstrafe absitzen und Zwangsarbeit bei einem Bauern verrichten musste. Ich tat das tatsächlich freiwillig - geblendet von der Liebe. Meine Liebste nämlich, die ich erst kurz vorher gefreit hatte, hielt das Fußball-Spiel für einen verwerflichen Akt patriarchaler Gewalt, der nach der Machtübernahme der Töchter Egalias unter deren Frauschaft verboten wird. Ich tat es ihr gleich - jedenfalls nach Außen, denn wer verliebt ist, tut die verrücktesten Sachen.

Und da der gesamte Freundeskreis aus grünalternativen Birkenstockschuhträgern und jutesackeinkaufstaschenbewehrter Friedensaktivisten bestand, für die Fußball ein Ausfluss kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse und kulturindustrieller Gehirnwäsche war, musste ich meine Leidenschaft im Heimlichen ausleben - so wie andere inkognito in den Swingerclub oder ins Bordell gehen.

An jenem Junitag im Jahr 1986 also, als im Estadio Jalisco in Guadalajara das Halbfinale zwischen der BRD-Mannschaft und Frankreich lief, stand ich auf einem fränkischen Kartoffelacker. Außer mir waren es noch ein paar andere Trottel, die beim Demeter-Bauern etwas für ihr ökologisches Gewissen taten, in Wirklichkeit aber sich nicht trauten, sich ihren Frauen zu widersetzen.

Glücklicherweise grenzte der Acker an einen Campingplatz und dort liefen in jedem Wohnwagen die Fernseher. Wer geschickt war, jätete das Unkraut in der Ackerfurche am Feldrand besonders gründlich, um den Geräuschfetzen lauschen zu können, die vom Campingplatz herüberwehten. Und so kann ich noch ganz genau sagen, was ich gemacht habe, als Andreas Brehme in der neunten Minute das 1:0 für die BRD erzielte: vor Freude Linda in zwei Hälften gehackt.

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