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Weder Kulturkampf noch Opfergang
Kurt Pätzold zerpflückt Mythen und Legenden über den Ersten Weltkrieg
Hier liegt eine Streitschrift vor, verfasst mit klarem Kopf und wissenschaftlicher Akribie - aber auch mit Zorn! Zorn angesichts der Nebelwerfer, die aus Anlass des bevorstehenden 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieges in Stellung gebracht wurden, um das seit einem halben Jahrhundert dokumentarisch vielfältig belegte Wissen über die Motive der Mächte und Kräfte zu verhüllen, die 1914 die Mordmaschinerie in Gang gesetzt hatten und über vier Jahre am Laufen hielten.
Für die Wissenschaft ist die Frage seit 1961 beantwortet, als der Hamburger Lehrstuhlinhaber Fritz Fischer mit seinem Buch «Griff nach der Weltmacht» auf breiter Quellenbasis ausleuchtete, was die deutschen Eliten bewog, auf einen großen Waffengang hinzuarbeiten und diesen schließlich im Sommer 1914 auszulösen: nämlich die Verwirklichung des Anspruchs auf einen «Platz an der Sonne» für das wilhelminische Kaiserreich, wie er ausgangs des 19. Jahrhunderts unverhohlen von der Tribüne des Deutschen Reichtags aus der Welt mitgeteilt wurde. Die seinerzeitigen wütenden Angriffe bundesdeutscher Fachkollegen gegen Fischer wurden angesichts der Überzeugungskraft weiterer entlarvender Dokumente bald schwächer und verstummten schließlich ganz. Fischers Sicht gelangte zu allgemeiner Anerkennung, und selbst die Geschichtsoberlehrer der Nation - die Medienzaren bzw. deren Schreibfedern und Lautsprecher - beugten sich der Akzeptanz.
Dem stellte sich nun der Cambridge-Professor Christopher Clark mit der These entgegen, die deutschen Eliten träfe am Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr Schuld als die Eliten anderer europäischer Großmächte, die allesamt wie Schlafwandler agiert hätten. Dem gebürtigen Australier ist von Berufskollegen an renommierten britischen Lehrinstituten heftig widersprochen worden. Ignoranz und Böswilligkeit wurden ihm attestiert: Nicht in sein Konzept passende - aber allgemein bekannte - Quellen würde er einfach nicht beachten.
In Deutschland hingegen machte sich sofort eine Phalanx von Historikern und Journalisten auf, Clarks These als Grundstock für eine Umwertung inzwischen allgemein anerkannter Wahrheiten zu feiern. Den Nebelkerzen, die dabei geworfen werden, stellt sich nun seinerseits Kurt Pätzold entgegen.
Der Berliner Geschichtsprofessor analysiert den Grundtenor der Umdeutung und untersucht auch die sich daraus ergebenen Nebenschauplätze mit erfrischender Polemik. Die verschiedenen schillernden Bezeichnungen für das erste industrialisierte Völkergemetzel sollen lediglich dessen wahren Charakter verschleiern: Der Erste Weltkrieg war ein imperialistischer Krieg.
Diese Tatsache zu verdecken, waren bereits mit dem ersten Tag des Krieges Lügen und Legenden in Umlauf gebracht worden, so die von der Vaterlandsverteidigung, von der angeblichen Einkreisung Deutschlands, vom «völkischen Aufbruch» (das «August-Erlebnis»), von Kulturkampf und Opfergang, von Kriegshelden und Heimatfront bis hin zu Dolchstoß, Schmachfrieden und Totenkult. Letzterem ist hier ein eigenes Kapitel gewidmet, das gnadenlos seziert, wie die Trauer um die «im Krieg Gebliebenen» missbraucht wurde, um den Boden für die geistige Vorbereitung des nächsten Krieges zu bereiten.
Einen Gipfel verbissener Revancheideologie nennt Pätzold nicht: Das regierungsamtlich geschaffene «Reichsehrenmal» - Schinkels umgestaltete Neue Wache im Herzen Berlins - trug, als es 1931 eröffnet wurde, die Inschrift «INVICTIS VICTI VICTURI» (Den Unbesiegten die Besiegten, die Sieger sein werden). Sie stammt vom Klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der im Oktober 1914 das «Bekenntnis von mehr als 3600 deutschen Hochschullehrern initiiert hatte, in dem der preußischen Militarismus als Zwillingsbruder der deutschen Kultur verklärt wurde. Die Unterschrift von Wilamowitz-Moellendorff befand sich zuvor bereits unter dem Aufruf von 93 namhaften deutschen Intellektuellen, der unter der Überschrift »An die Kulturwelt« den gerade eröffneten Waffengang als Verteidigung der deutschen Kultur gegen eine dem deutschen Wesen fremde Zivilisation erhob und künftige Kriegsverbrechen des deutschen Militärs vorab rechtfertigte. Dieses traurige Dokument totaler Verblendung der deutschen Geisteselite veröffentlicht Pätzold im Anhang seiner Streitschrift, allerdings ohne die Namen der Unterzeichner.
Das »INVICTIS« an der Neuen Wache in Berlin bezog sich auf das breit gepflegte Dogma von dem »im Felde unbesiegten« deutschen Heer. Dieses hatte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert am 6. Dezember 1918 vor dem Brandenburger Tor aus- und ins Leben gerufen. Die alten Eliten nahmen es gierig auf, hegten und pflegten es, der breiten Front der Revanchisten jeglicher Couleur in die Hände spielend. Und noch heute ist diese Lüge im öffentlichen Raum präsent, wie allein Straßenschilder in Städten und Kommunen bezeugen, auf denen führender Militärs und hoch dekorierter »Kriegshelden« gedacht wird, die in den Heeresberichten 1914 bis 1918 Erwähnung fanden - ein hierzulande nur ungern angesprochenes Thema, das Kurt Pätzold ebenfalls entlarvt.
Kurt Pätzold: 1914. Das Ereignis und sein Nachleben. Verlag am Park, Berlin 2014. 173 S., br., 14,90 €.
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