Zeugin einer verlorenen Zeit
Die Osterburg im thüringischen Weida ist Endstation für die einzige große Atomuhr der DDR
Auf der Osterburg schnurrt die Zeit zusammen wie ein Gummiband. Während im Tal das idyllische Städtchen Weida geschäftig durch die Gegenwart summt, schweifen die Gedanken auf dem Hof der Burg, die oberhalb der Weida thront, weit in die Vergangenheit. Anlass bietet der kegelförmige Turm mit seinem doppelten Zinnenkranz, der zu den ältesten seiner Art in Deutschland gehört; noch mehr aber eine kleine Metalltafel. Sie zeigt den Umriss der DDR samt einer krakeligen Linie in deren Südhälfte. »Südgrenze des skandinavischen Inlandeises im Quartär«, ist zu lesen. Bis nach Weida, so belegen hier gefundene Feuersteine, hatte sich in der »Elster-Eiszeit« ein Hunderte Meter dicker Eispanzer vorgeschoben. Das ist unvorstellbar lange her: mindestens 320 000 Jahre, 117 Millionen Tage - oder 1013 Sekunden.
Mit dem Gerät, das im ehemaligen Amtsgerichtssaal der Osterburg liegt, hätte man diese Zeitspanne messen können. Nicht nur ungefähr über den Daumen gepeilt, sondern auf den Bruchteil einer Sekunde genau. Schließlich handelt es sich bei dem Haufen Metallteile, der eher an einen in Unordnung geratenen Heizungskeller erinnert als an ein physikalisches Präzisionsinstrument, um die Teile einer Atomuhr - der einzigen dieser Größe, die je in der DDR gebaut wurde. In dieser Uhr wurden Schwingungen verdampfter Cäsium-Atome genutzt, um Zeit zu messen - viel genauer, als das selbst die besten Armbanduhren aus Ruhla oder Glashütte vermocht hätten. Diese durften innerhalb von 14 Tagen eine Sekunde falsch liegen. Die Atomuhr dagegen, sagt Dr. Klaus Möbius, »sollte in 1013 Sekunden um höchstens eine Sekunde vor- oder nachgehen.« In den Jahren von der Elster-Eiszeit bis heute: nur ein Wimpernschlag daneben.
Wenn Klaus Möbius über die Uhr spricht, ist ihm der Stolz noch heute anzumerken. »Das war Weltniveau«, sagt der Physiker, der in der DDR als Vizepräsident im Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung (ASMW) speziell für das Messen zuständig war. Gewicht und Kraft, Länge und auch die Zeit waren sein Metier. In seiner Zuständigkeit wurde an der Uhr getüftelt, in einem Gebäude in Altglienicke am Rand von Berlin, das gegen elektromagnetische Strahlung ebenso abgeschirmt war wie gegen die Blicke Neugieriger. Ein Dutzend Jahre lang zerbrachen sich vier Wissenschaftler, vier Ingenieure und einige Modellbauer die Köpfe - im Bestreben, ihr Land auch auf diesem Gebiet an die Weltspitze heranzuführen.
Atomuhren sind keine Alltagsartikel. »Für Zeit in dieser Genauigkeit interessieren sich nur wenige Leute«, sagt Möbius. Zu ihnen gehören Nachrichtentechniker, aber auch Kapitäne oder Militärs. Seit den 1960er Jahren werden Abstände und Entfernungen, ob nun zu Küsten oder zu Raketen, bestimmt, indem die präzise Zeit gemessen wird, die ein Signal auf einer Strecke unterwegs ist. Dabei geht es nicht um Sekunden, sondern Bruchteile davon. Die genaueste Messung ermöglichen Atomuhren - über die aber nur wenige Länder verfügten: USA und UdSSR, Frankreich und Japan, Italien und die Bundesrepublik. Zu dem exklusiven Kreis wollte die DDR stoßen. Die einfachste Lösung wäre gewesen, eine Uhr zu kaufen. Allerdings hatte der Westen ein Embargo verhängt. Und die Sowjets nutzten ihre Uhren militärisch - und gaben sie an das Bruderland nicht ab.
Über die Gründe, warum die DDR dennoch unbedingt die Atomuhr haben wollte, kursieren in Zeitungsartikeln teils abenteuerliche Theorien. Eine verbreitete: Das Land habe nicht über ein eigenes Zeitsignal verfügt und die genaue Zeit statt dessen aus dem Westen bezogen. Dazu sei das dortige Zeitsignal von einem Horchposten der Nationalen Volksarmee (NVA) auf dem Brocken illegal abgegriffen worden. Eine kuriose Vorstellung: Ausgerechnet der kapitalistische Westen gibt vor, wie die DDR zu ticken hat. Die Rede ist auch von einem eigenen Zeitsystem, das die sozialistischen Länder ab Mitte der 80er Jahre hätten etablieren wollen. Unsinn, sagt Klaus Möbius: »Das hätte den Interessen von Verkehr, Handel und Industrie völlig widersprochen.« Die wollten sich, wie das kleine Land insgesamt, nicht abschotten, sondern international gleichberechtigt mitspielen - möglichst im Spitzenfeld. Deshalb, sagt Möbius, wollte man die Zeitmessung »so aufrüsten, dass sich Abweichungen zum Weltzeitsystem in Grenzen hielten«.
Das Ziel war ehrgeizig, die Probleme enorm. Wer eine Atomuhr bauen will, muss mit Cäsium umgehen können, einem Alkalimetall, das beim Kontakt mit Luft explodiert. Er muss Vakuum und Mikrowellen bändigen und Geräte bauen, die es ermöglichen, die Uhr in das Netz anderer Atomuhren einzubinden. »Physikalisch war das alles beherrschbar«, sagt Möbius. Die praktische Umsetzung aber erwies sich als kompliziert. Zwei transportable Atomuhren, eine für die Post, eine für die NVA, bekamen die Wissenschaftler zum Laufen; an der großen Uhr drohten sie sich die Zähne auszubeißen. »Eigentlich«, räumt Möbius ein, »war uns das ganze Vorhaben eine Hutnummer zu groß.«
Trotzdem schien man im Sommer 1989 am Ziel zu sein: Die Uhr lief mehrere Tage am Stück. »Wir waren so weit«, sagt Möbius, »ein Jahr später hätte sie in den Zeitdienst gehen können.« 1990 aber war für das Land, das sich die Uhr hatte bauen lassen, die Zeit abgelaufen; im Oktober hörte es auf zu existieren. Die Bundesrepublik, in der auch Altglienicke nun lag, betrieb in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) Braunschweig bereits mehrere exzellente Atomuhren. Während viele Mitarbeiter des ASMW in der PTB oder in den neu entstehenden Eichämtern eine Arbeit fanden, gab es für die Atomuhr, an der so besessen getüftelt worden war, keine Verwendung. Immerhin: Im »Metrologischen Institut« Bratislava durfte sie noch eine Weile den Zeittakt für die ČSSR vorgeben. Als aber die Reparaturen zu teuer zu werden begannen, wurde sie auch dort außer Dienst gestellt und geriet in einem Keller fast in Vergessenheit.
Im Frühsommer 2014 steht die Uhr nicht mehr in der Slowakei, sondern liegt in Einzelteilen im früheren Gerichtssaal der Osterburg - neben Hellebarden aus Pappe und Verkehrsschildern des Bauhofs von Weida. Die Stadt hatte 2012 mit einer Ausstellung an die Physikalisch-Technische Reichsanstalt erinnert, den Vorläufer von ASMW und PTB, der 1943 zum Schutz vor Kriegseinwirkungen von Berlin nach Thüringen verlegt worden war. Auf der Suche nach Exponaten entsann man sich der Atomuhr - und rettete diese in letzter Minute vor der geplanten Verschrottung.
In der Ausstellung war die Uhr ein Besuchermagnet, erinnert sich Bettina Gunkel, die Hauptamtsleiterin von Weida. 6000 Besucher kamen in das Schloss: »Für Weida ist das viel.« Die Schau aber ging irgendwann zu Ende, die Uhr blieb. Seither sammelt sich auf den Abdeckplanen der Staub, und Gunkel entsinnt sich ihrer Bedenken: »Gott, da holen wir uns was her, und keiner weiß, was daraus wird.«
Wer neben Gunkel vor den Rohren und Zylindern, dem Schrank voller antiquierter Elektronik und den Kartons mit Schrauben steht, dem drängt sich der Gedanke auf, es handle sich nicht nur um Relikte eines Zeitmessers, sondern auch um ein Gleichnis für das Land, in dem sie entstand. Die Uhr wirkt wie ein Sinnbild für das ehrliche Bemühen, auf dem auch die DDR gründete, für das beharrliche Ringen mit Widerständen und Schwierigkeiten; für den vielleicht zu ehrgeizigen Anspruch, als kleines Land zu den Großen zu gehören, für Irr- und Abwege, auf die man geriet - und das Scheitern all der Anstrengungen. Nun liegt das Erbe auf einem wüsten Haufen; viele wären es gern los, und andere grübeln, was sich damit anfangen ließe.
Ein paar Ideen haben sie in Weida immerhin. Die Rede ist von einem »Wissensschloss«, in dem Jugendliche auf unorthodoxe Weise an Naturwissenschaft und Technik herangeführt werden könnten. Der Stadtrat hat bereits einen Beschluss gefasst. Platz genug wäre für derlei kühne Träume: Im Schloss, das vor 1989 als Jugendherberge genutzt worden war, stehen 3000 Quadratmeter leer. Nun braucht es nur noch ein ausgefeiltes Konzept - und Geld. Wann das eine wie das andere bereitstehen: Dazu kann Gunkel vorerst nichts sagen.
Die Atomuhr staubt derweil ein. Besucher äußern Ideen: Man könne doch einen Preis für Studenten ausloben, die das Gerät wieder in Schuss bringen. Bettina Gunkel wirkt nicht überzeugt. Sie wäre schon froh, wenn alle Teile beisammen blieben. In der Jubiläumsschau war schließlich auch eine Nachbildung des Urmeters ausgestellt - die prompt geklaut wurde. Die Atomuhr wiegt zum Glück 300 Kilo, die Treppen im Schloss sind verwinkelt, und das Cäsium ist anderswo in der Stadt sicher eingeschlossen. Für die Atomuhr scheint Weida die letzte Station zu sein. Ob sie aber je beweisen kann, dass und wie genau sie läuft - das weiß niemand.
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