Verlust der Vielfalt oder neu gemischte Karten
Neue Studie sieht statt verringerter Biodiversität nur einen Wechsel der Artenzusammensetzung der Ökosysteme. Kritiker bemängeln Trend zur Homogenisierung
Der Verlust der Biodiversität gilt als eines der drängendsten Probleme im Naturschutz. Auf allen Ebenen versucht die Politik dagegen anzusteuern - auf globaler Ebene mit dem 1992 in Rio de Janeiro verabschiedeten UN-Übereinkommen über die biologische Vielfalt, auf EU-Ebene mit einem 2006 beschlossenen Aktionsplan und in Deutschland mit der vom Bundeskabinett im Jahr 2007 abgenickten Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, die mit 430 Maßnahmen bis zum Jahr 2020 den Rückgang der biologischen Vielfalt aufhalten soll. Allein: Es scheint wenig zu helfen. Sämtliche Studien, die Umweltorganisationen wie der WWF oder die Weltnaturschutzunion IUCN vorstellen, belegen, dass immer mehr Tier- und Pflanzenarten von der Erde zu verschwinden drohen.
In der Wissenschaft hingegen ist man sich noch längst nicht so einig darüber, ob sich derzeit wirklich ein weltweites Artensterben abspielt. Für Aufregung sorgte ein Artikel, den ein internationales Team um die Biologin Maria Dornelas von der School of Biology der schottischen Universität St. Andrews kürzlich im US-Fachmagazin »Science« (Bd. 344, S. 296) veröffentlichte. Deren Befund: Obwohl der Mensch die Aussterberate von Arten rund um den Globus beschleunigt hat, gibt es keinen stetigen systematischen Verlust der Artenvielfalt in den Meeren und den terrestrischen Ökosystemen. Stattdessen, so schreiben die Forscher in dem Beitrag, finde ein systematischer Wechsel in der Artenzusammensetzung von Ökosystem zu Ökosystem statt. Mehr als 100 Datensätze, beginnend im Jahr 1874, hatten die Wissenschaftler für ihre Studie unter die Lupe genommen und dabei die Häufigkeiten von mehr als 35 000 Vogel-, Säugetier-, Fisch- und Pflanzenarten sowie Wirbellosen untersucht.
Biodiversität umfasst nicht nur die Vielfalt von Tier- und Pflanzenarten in einem Ökosystem, sondern auch die Vielfalt von Lebensräumen und Ökosystemen sowie die genetische Vielfalt innerhalb einer Art. In der Öffentlichkeit wird Biodiversität oft mit Artenvielfalt gleichgesetzt.
Weltweit sind ca. 1,37 Millionen Tier-, rund 340 000 Pflanzen- und etwa 100 000 Pilzarten beschrieben. Als Hotspot der Artenvielfalt gilt der tropische Regenwald. Obwohl er nur sechs Prozent der Erdoberfläche bedeckt, leben dort 50 bis 80 Prozent der weltweit an Land vorkommenden Tier- und Pflanzenarten. Er beherbergt beispielsweise über 40 000 Pflanzenarten. Die allermeisten Arten sind aber noch nicht beschrieben. Wissenschaftler schätzen die Zahl noch unbeschriebener Arten zwischen drei und 100 Millionen.
In Deutschland kommen ca. 48 000 Tier-, 10 300 Pflanzen- und etwa 14 400 Pilzarten vor. In einem typischen Buchenwald leben rund 4300 Pflanzen- und Pilzarten sowie mehr als 6700 Tierarten. Im Grünland ist die Artenvielfalt noch höher: Dort wurden allein ca. 3600 Farn- und Blütenpflanzen nachgewiesen.
Wissenschaftler messen Diversität nicht nur an der Artenzahl, sondern oft auch mit dem sogenannten Shannon-Wiener-Index. Der erfasst neben der Zahl auch die Häufigkeit der Arten. hae
Aus den Daten schlussfolgern die Autoren, dass die biologische Vielfalt nicht systematisch geringer wird, sondern dass lokale und regionale Arten durch zugewanderte ersetzt werden. »Die Ergebnisse legen eher nahe, dass neue Tier- und Pflanzenarten auftauchen«, sagt Dornelas. Daraus könnten sich neue Ökosysteme entwickeln. Als Beispiel führen die Autoren mit Verweis auf andere wissenschaftliche Studien an, dass etwa auf Jamaika vom Menschen beeinflusste und von Wirbelstürmen in Mitleidenschaft gezogene Korallenriffe von Makroalgen und neuen Korallenarten besiedelt und dominiert werden. Es gibt noch mehr ähnliche Beispiele. Bekannt sei etwa, dass durch die Erderwärmung immer mehr Arten Richtung Norden wandern und dort für eine Zunahme der Artenzahl sorgen, während zugleich ursprünglich heimische Arten verschwinden. Dornelas und ihre Kollegen stellten zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass die sogenannten Turnover-Raten der Arten, also quasi der Wandel einer Artengemeinschaft in einem Ökosystem, durchweg höher waren, als sie laut eigenen Modellrechnungen eigentlich erwartet hatten. Ihre Erklärung: Ursache dafür sind invasive Arten, die sich rund um die Welt dank der Erderwärmung und des gestiegenen globalen Güteraustauschs vor allem über den Schiffsverkehr rasant ausbreiten.
Allerdings sind gerade bei der räumlichen Verteilung von Arten noch viele Fragen unbeantwortet. Wissenschaftler der Duke University in Durham (US-Bundesstaat North Carolina) haben nun beispielsweise festgestellt, dass viele bedrohte Arten in relativ kleinen Lebensräumen zu finden sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie aussterben oder vom Aussterben bedroht seien, sei deswegen viel höher als bei geografisch weit verbreiteten Arten, schreiben sie in »Science« (Bd. 344, S. 878). Das Wissenschaftlerteam um den US-Ökologen Stuart Pimm hatte dafür die Verteilung von Vogel-, Amphibien-, Säugetier- und Blütenpflanzenarten untersucht. Dies, so Pimms Forderung, müsste beim Ausweisen von Schutzgebieten noch viel stärker berücksichtigt werden.
Längst nicht alle Wissenschaftler wollen der These folgen, dass man eher von einem Wandel der Biodiversität als von einem systematischen Verlust der Artenvielfalt sprechen sollte. Bradley Cardinale, Ökologieprofesssor an der US-University of Michigan, hält die Schlussfolgerung der schottischen Wissenschaftlerin »für irreführend, da die lokalen Verluste der Biodiversität in der Studie nicht berücksichtigt worden sind«. Beispiele dafür listet er in einem Brief an »Science« zum Beitrag von Dornelas auf: Zwischen 1990 und 2010 seien jährlich 13 Millionen Hektar tropischer Regenwald vernichtet, 90 Prozent der Feuchtgebiete trockengelegt, 70 Prozent der mediterranen und gemäßigten Wälder in Weideland und Äcker umgewandelt worden. »Nirgendwo in der Studie sind diese Verluste der Artenvielfalt quantifiziert worden, obwohl es eine Tatsache ist, dass der Verlust von Habitaten und die Landnutzung die wichtigsten Treiber des lokalen Verlusts von Artenvielfalt auf der Erde sind«, schreibt Cardinale. Die Befürchtung des US-Forschers: »Man könnte die Studie missverstehen, dass der Mensch nicht den Rückgang der Artenvielfalt auf lokaler Ebene verursacht hat.«
Auseinandersetzungen wie diese, sind für Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle nichts Neues: »Das ist eine grundlegende Diskussion, die in der Wissenschaft schon seit längerem geführt wird«, sagt der Ökologe, der seit vielen Jahren internationale Biodiversitäts-Forschungsprojekte koordiniert. Die Probleme rührten daher, dass es unter anderem darauf ankomme, auf welcher räumlichen Skala man den Artenrückgang diskutiere. Ein Beispiel aus Deutschland veranschaulicht das: Auf nationaler Ebene ist in Deutschland mit dem Brocken-Mohrenfalter erst eine Schmetterlingsart ausgestorben, auf regionaler Ebene sind dagegen sehr viel mehr Arten verschwunden. »Während auf nationaler Ebene die Artenvielfalt nahezu konstant bleibt, geht sie auf lokaler Ebene zurück«, erläutert Settele.
Hinzu kommt nach Meinung des UFZ-Forschers ein anderer Effekt: »Wenn auf lokaler Ebene hoch spezialisierte Arten verschwinden, werden diese zumeist nur durch Allerweltsarten ersetzt.« Dieser Artenaustausch sorgt laut Settele für eine Homogenisierung der Artbestände. Lücken nach dem lokalen Aussterben von Arten füllen vor allem invasive Arten wie Riesen-Bärenklau, Beifuß-Ambrosie, Japanischer Staudenknöterich oder Nutria. Für den Hallenser Forscher ist deshalb eher die Frage, »wie seltene Arten im Vergleich zu weit verbreiteten Arten wie Neophyten und Neozoen bewertet werden«. Haben diese Neuankömmlinge im Ökosystem günstige oder eher negative Auswirkungen? In der Antwort darauf ist aber die Mehrheit der Wissenschaftler einer Meinung: Invasive Arten sind in der Summe eher als kritisch für das Ökosystem anzusehen.
Auch die Politik sieht diese Arten als Problem an. Die Beifuß-Ambrosie sorgt für Allergien, der Riesen-Bärenklau für Hautausschläge beim Menschen, Waschbär und der amerikanische Nerz dezimieren die heimische Vogel- und Amphibienwelt. Die EU-Kommission schätzt den Schaden, den diese rund 12 000 gebietsfremden Arten anrichten, auf mindestens zwölf Milliarden Euro pro Jahr. Sie hat deswegen Mitte April eine neue EU-Verordnung verabschiedet, die die Ausbreitung der neu eingewanderten Tier- und Pflanzenarten kontrollieren und bekämpfen soll.
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