Naziwitze erklären
Abseits! Die Feuilleton-WM-Kolumne. Die Fußball-WM in Brasilien, erzählt aus rotverdächtiger Position
Eigentlich wissen wir alle, dass man Witze nicht erklären soll. Aber manchmal hat man, besonders als Nicht-Native-Speaker, das Bedürfnis danach. Einmal letzten Winter, zum Beispiel, traf ich mich mit einem Kumpel im Café zum Quatschen. Ich wollte, dass er mir den Witz erklärt, den Michael Ringel in der »Taz« über die blinden Fußballer gemacht hatte. »Warum war das lustig?«, fragte ich. »Deswegen, weil er sagte, dass Blinde Vollpfosten sind? War das der Witz?«
Mein Kumpel blickte mich entschuldigend an. Ich bin überhaupt keine Domina - leider, eigentlich. Ich wäre viel glücklicher, wenn ich dominanter wäre. Ich bin eigentlich viel zu devot für die deutschen Männer - aber sogar ich kann erkennen, dass deutsche Männer am schönsten aussehen, wenn sie entschuldigend gucken.
»Nee«, sagte er peinlich berührt. »Nee. Der Witz geht darum, dass die blinden Fußballer nicht sehen können, weil sie blind sind. Und deswegen rennen sie gegen die Torpfosten.« Ich war wütend. Denkt an Triton, den Papa von Arielle, der kleinen Meerjungfrau, wenn er die Menschensachen in ihrer Schatzgrube zerstört. »Darum geht es? Darum? Bist du dir sicher? Wissen eigentlich die Leute, die sich weigern, sich für diesen Witz zu entschuldigen, dass er so doof ist?« - »Na ja. Man muss das Recht der Menschen verteidigen, unlustige Witze zu machen«, sagte mein Kumpel. »Man muss unlustige Witze machen dürfen, auch wenn sie Leute verletzen. Es geht nicht darum, wie lustig der Witz ist. Es geht darum, dass man die Redefreiheit der Menschen, die schlechte Witze machen wollen, beschützen muss.«
»Ich muss das nicht tun«, sagte ich. »Ich muss nicht unlustige Witze verteidigen. Ich verteidige nur lustige Witze. Lustige Witze müssen wir verteidigen - unlustige Witze nicht. Wenn ein Witz unlustig ist, darf er nicht existieren.« - »Aber wer darf entscheiden, Jacinta, ob ein Witz lustig ist oder nicht?« Das weiß ich natürlich nicht. Nur eins weiß ich: Diese Person sollte wahrscheinlich kein Deutscher sein.
Ich habe das Spiel Brasilien gegen Deutschland zu Hause mit meinem Sohn und meinen 645 750 000 Kumpels bei Twitter geguckt. Während des Spiels gab es viele Naziwitze bei Twitter. Sie waren nervig und unfair, langweilig und unoriginell. Die deutschen Leute sind keine Nazis mehr, und der Weltkrieg ist längst vorbei. Teilweise waren die Witze auch sehr unlustig. Zum Beispiel: »The Germans have stormed into a foreign country and taken charge. How unexpected.« Oder: »Man the goalie really holocaust them the game, I bet Brazil’s coach was like Aw Schwitz.« Solche Witze sind scheiße und hätten nicht gemacht werden sollen.
Aber es gab andere Nazitweets, die okay waren, finde ich. Mein Lieblingskandidat wäre zum Beispiel »Brazil did Nazi this coming.« Man muss ein Herz aus Stein haben, um nicht erkennen zu können, dass das ein gutes Wortspiel ist - »Nazi: not see«. Vor diesem Wortspiel muss man Respekt haben. Oder, noch schlimmer eigentlich: »This was Germany’s Semi-Final Solution.«
Mein Sohn Ryan ist erst neun Jahre alt. Vielleicht denkt ihr, dass er zu jung ist, um von den Engländern als Nazi eingestuft zu werden? Nix da. Man ist als Deutscher nie zu jung, um als Nazi eingestuft zu werden. Meine Eltern kamen mich besuchen, als Ryan noch ein Baby war, und er war als Baby ein Schreikind. Eines Abends hörte er nicht auf zu schreien. Wir standen rum und versuchten, mit ihm so zu jonglieren, dass er aufhören würde. Aber er hörte nicht auf. »Vielleicht tut es ihm das leid, das mit dem Holocaust«, sagte mein Papa nachdenklich. »Ach, Quatsch!«, sagte die Stiefmutter. »Er ist nur sauer, dass er den Krieg verloren hat!«
Es war das erste Mal, dass ein Naziwitz mich genervt hat. Mein Sohn war so klein und unschuldig. Der Holocaust so groß und schrecklich. Das hatte Ryan nicht verdient. Aber mein Sohn, obwohl er jetzt älter ist, ist immer noch zu klein, um zu verstehen, was es wirklich heißt, Deutscher zu sein.
Beim 7:0 sagte ich zu ihm: »Ich finde, die Deutschen sollten jetzt ein Eigentor schießen. Das würde ich tun, wenn ich auf dem Feld wäre. Ein Eigentor, als Trost für die armen Brasilianer.« Mein Sohn schüttelte seinen Kopf und guckte mich entschuldigend an. »Das werden sie niemals tun, Mama, die deutschen Fußballer. Sie wollen nur gewinnen, die Deutschen. Sie können nur gewinnen.«
Ich nickte und machte mal keinen Naziwitz. Es gibt Momente im Leben, wo man wirklich darauf verzichten kann.
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